Lyrisches

Engel-Lied

(für meine verstorbene Frau Adelheid zitiert)

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,

und er verarmte mir in den Armen

und wurde klein, und ich wurde groß:

Und auf einmal war ich das Erbarmen,

und er eine zitternde Bitte bloß.

 

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben,-

und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;

er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,

und wir haben langsam einander erkannt.

Rainer Maria Rilke

Endlich!

Ich hechte himmelhoch hinauf,

ich fange den Faden der fliegenden Spinne im Wind,

ich segle dahin auf schlierig schillernden Seifenblasen,

erblicke den blauen Himmel hinter blühenden Bäumen,

ich träume den verloren geglaubten Traum meiner Träume:

Ich selbst zu sein.

Adelheid Natus

Sand der Zeit

Was bleibt, wenn wir die Anker lichten?

Von uns vielleicht ein paar Geschichten.

An diesen schleift der Sand der Zeit.

Bestand hat nur Vergänglichkeit.

Adelheid Natus

Mein Dasein

Ein Hauch streicht durch das Ährenfeld -

so war mein Dasein in der Welt.

Hab' viel getan, kaum 'was geschafft,

und doch kostete das so viel Kraft.

Adelheid Natus

Tragend

Musst nie den Mut verlieren,

wenn Wege weiterführen,

Dein Herz noch weiter schlägt

und ein Traum Dich trägt.

Dieter Natus

Held des eignen Lebens

Gleich einem bunten Frühlingshauch

am dufterfüllten Blütenstrauch

zeigte sich ein Schmetterling

im Nektarrausch am Blütenring.

In seinem braunen Status Quo

sah dies ein Frosch, der dachte so: 

"Ich muss feucht und erdverbunden

tarngefärbt den Grund umrunden.

Ich will meinen Honigkuchen

auch in lauen Lüften suchen."

 

So kam der Frosch, er war so frei,

für einen Sprung mal kurz vorbei,

besuchte jenen Schmetterling,

dem Kröten-Not zu Herzen ging.

Und dieser sprach, nicht überheblich:

"Schau, dein Hopser war vergeblich.

Um im Leben Glück zu haben,

achte auf die eignen Gaben.

Die Blume hat jetzt einen Knick,

du warst als Schmetterling zu dick.

Sei der Held des eignen Lebens,

als Kopie lebst du vergebens".

Dieter Natus

Einfach leben

Der Vogel singt

und fragt nicht, wer ihm lauscht.

Die Qelle rinnt

und fragt nicht, wem sie rauscht.

Die Blume blüht

und fragt nicht, wer sie pflückt.

O sorge Herz,

dass gleiches Tun dir glückt.

Julius Sturm

Der freigebige Baum

Bei einem Wirte wundermild,

da war ich jüngst zu Gaste;

ein gold'ner Apfel war sein Schild

an einem langen Aste.

Es war der gute Apfelbaum,

bei dem ich eingekehret;

mit süßer Kost und frischem Schaum

hat er mich wohl genähret.

Es kamen in sein grünes Haus

viel leichtbeschwingte Gäste;

die sprangen frei und hielten Schmaus

und sangen auf das beste.

Ich fand ein Bett zu süßer Ruh

auf weichen grünen Matten;

der Wirt, er deckte selbst mich zu

mit seinem kühlen Schatten.

Nun fragt' ich nach der Schuldigkeit,

da schüttelt er den Wipfel.

Gesegnet sei er allezeit

von der Wurzel bis zum Gipfel !

Ludwig Uhland

Vor dem Tor

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

durch des Frühlings holden, belebenden Blick,

im Tale grünet Hoffnungsglück;

der alte Winter, in seiner Schwäche,

zog sich in rauhe Berge zurück.

Von dort her sendet er, fliehend, nur

ohnmächtige Schauer körnigen Eises

in Streifen über die grünende Flur.

Aber die Sonne duldet kein Weißes,

überall regt sich Bildung und Streben,

alles will sie mit Farben beleben;

doch an Blumen fehlts im Revier,

sie nimmt geputzte Menschen dafür.

 

Kehre dich um, von diesen Höhen

nach der Stadt zurück zu sehen!

Aus dem hohlen finstern Tor

dringt ein buntes Gewimmel hervor.

Jeder sonnt sich heute so gern.

Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

denn sie sind selber auferstanden:

Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

aus der Straßen quetschender Enge,

aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

sind sie alle ans Licht gebracht.

 

Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge

durch die Gärten und Felder zerschlägt,

wie der Fluss in Breit und Länge

so manchen lustigen Nachen bewegt,

und, bis zum Sinken überladen,

entfernt sich dieser letzte Kahn.

Selbst von des Berges fernen Pfaden

blinken uns farbige Kleider an.

Ich höre schon des Dorfs Getümmel,

hier ist des Volkes wahrer Himmel,

zufrieden jauchzet groß und klein:

Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!

Johann Wolfgang von Goethe, Faust I

Aschermittwoch

Nun fällt der tollen Narrenwelt

das bunte Kleid in Lumpen, -

und klirrend auf den Estrich schellt

der Freude voller Humpen.

Lautkrachend springt ins Schloß das Tor,

kein Lichtschein mehr am Fenster -

ein grauer Morgen kriecht empor,

der Morgen der Gespenster.

 

Da ist im tiefen Straßenstaub

ein stolzes Weib gestanden -

von ihrem Odem rauscht das Laub,

des Meeres Wogen branden.

Sie reckt sich in die Frühlingspracht

mit herrischer Gebärde:

mein ist, was blüht und weint und lacht -

mein ist die ganze Erde!

 

Was bimmelt ihr vom Kirchenturm

und predigt Reu und Buße?

Ihr seid das Sandkorn vor dem Sturm,

der Staub mir unterm Fuße.

Was schiert mich eurer Sünde Scham

und eurer Hölle Flammen?

Ich blas den ganzen Maskenkram

mit einem Hauch zusammen.

 

Mir gilt die Dirne unterm Tor,

das Hündlein in der Gossen

mehr als der schönste Damenflor

in euren Staatskarossen.

Und Blumen und Konfettischlacht?

Wie jäh verstummt die Harfe,

versprüht der Witz, verblaßt die Pracht,

löst meine Hand die Larve.

 

Mir gilt des Bettlers hohle Hand

und gramzerfressne Miene

mehr als der Fürstenhöfe Tand

und blutige Hermeline. -

Und tobt im Ost der Schwertertanz,

und saust das Blei, das rasche -

auf aller Kronen Faschingsglanz

streu ich die Handvoll Asche!

 

Ob Kirchen- oder Festungssturm,

sie wanken beid auf Erden

und werden einst vom Wirbelsturm

zu Staub zerblasen werden.

Und reißt der letzten Narretei

der bunte Rock in Fetzen,

dann soll die Menschheit, nackt und frei,

sich an die Tafel setzen.

Clara Müller-Jahnke

Abschied

Genug gesehn. Das Schaun ist allem Abschied längst begegnet.

Genug gehabt. Den Lärm der Städte, abends, und in der Sonne und allezeit.

Genug gehört. Das Leben stockt. - O Geräusche und Visionen!

Aufbruch voll Gefühl und Geschrei - neu!

Arthur Rimbaud

Fort!

Wir folgen zur Pforte

Den Letzten, die gehen;

Des Abschieds Worte

Im Nachtwind verwehen.

 

Wo süß deine Kehle

Noch eben gesungen,

Hält Garten und Säle

Nun Dunkel umschlungen.

 

Es war eine Rast nur,

Ein kurzer Akkord!

Sie war ein Gast nur, –

Und nun ist sie fort.

Henrik Ibsen (1828-1906)

Abschied

Ich weiß nicht mehr, wie es gekommen.

Kurzum! Nach längerem Verborgen-Sein

Hab ich dereinst auf Erden Platz genommen,

Um auch einmal am Licht mich zu erfreu'n.

Und alsogleich fasst mich die Zeit am Kragen

Und hat mich neckisch, ohne viel zu fragen,

Bald grade aus, bald wiederum im Bogen,

durch diese bunte Welt hindurchgezogen.

 

Inzwischen pflückt ich an des Weges Rand

Mir dies und das, was ich ergötzlich fand.

Auch leert ich manchmal manchen vollen Krug

Mit guten Freunden, bis es hieß: Genug!

Nur eins erschien mir oft verdrießlich:

Besah ich was genau, so fand ich schließlich,

Dass hinter jedem Dinge, höchst verschmitzt

Im Dunkel erst das wahre Leben sitzt.

 

Allein, wozu das peinliche Gegrübel?

Was sichtbar bleibt, ist immerhin nicht übel.

Nun kommt die Nacht. Ich bin bereits an Ziele.

Ganz nahe hör' ich schon die Lethe fließen.

Und sieh! Am Ufer stehen ihrer viele,

Mich, der ich scheide, freundlich zu begrüßen.

Nicht allen kann ich sagen: Das tut gut!

Der Fährmann ruft. Ich schwenke meinen Hut.

Wilhelm Busch, Mechtshausen 1907

Wie eine reife, süße Dolde

hing deine Güte über mir;

im Rausche griff ich nach dem Golde

und streifte schon an seine Zier.

 

Nun hat ein grau gewobner Schleier

mir deinen Liebreiz jäh vermummt;

und unsrer Seelen bunte Feier

ist ohne Klagelaut verstummt.

Otto Erich Hartleben (1864-1905)

Abschied

Leb wohl, leb wohl, mein Kind, und keine Klage!

Noch einen Kuß, noch eine Neige Wein!

So licht und freundlich waren diese Tage,

Lass freundlich auch den Abschied sein.

 

Sieh, wenn hinab zu südlich fernen Borden

Im langen Wanderzug der Kranich schwirrt,

Begleitet ihn ein Traum vom grünen Norden,

Er spürt es, dass er wiederkehren wird.

 

So wird auch uns von unserm kurzen Glücke

Ein Schimmer fort und fort im Herzen stehn,

Und treu Gedenken sei die gold'ne Brücke

Vom Scheidegruß zum Wiedersehn.

Emanuel Geibel

Scheiden

Warum muss, ach, das Scheiden sein,
Das Scheiden?
Darum man muss so bitt're Pein
Erleiden?
Kein bösres Wort in aller Welt!
Tod spricht es!
Und wem es recht aufs Herze fällt
Dem bricht es.

Halt was du liebst, fest an der Brust!
O scheue dich!
Zusammen trägt sich Leid und Lust
So freudig!
Warum muss, ach, das Scheiden sein!
Tod spricht es!
Und wem es recht aufs Herze fällt
Dem bricht es.

Christian Reinhold Köstlin (*1813 †1856)

Abschied

Sie hat mich still zum Abschied angeblickt,
Vor tiefer Rührung konnte sie nichts sagen;
Dann hat sie gleich den Mond mir nach geschickt,
Den ganzen Schmerz des Abschieds nachzutragen!
Christian Reinhold Köstlin (*1813 †1856)

 

Nächte der Perseiden -
die Erde saust durch
Sternenstaub;
verliert sich fast
in der Unendlichkeit.

Sternschnuppen -
in dem Schwarz der Nacht
fliegen meine Wünsche
mit ihnen von hier
bis in die Ewigkeit.

Doch ich erkenne auch
die Endlichkeit der Wünsche,
die ich äußere,
wenn ich,
inmitten dieser Nacht,
die Unendlichkeit
der Schöpfung
erahnen kann.

"Ingrid Schacht: "Rosen- und lavendelfarbene Zeit"

Konzert: ein Lied an Gott (Auszug)

Zwischen Winternächten liegen meine Träume

aufbewahrt im Mond, der mich betreut -

und mir gut ist, wenn ich hier versäume

dieses Leben, das mich nur verstreut.

Else Lasker-Schüler

Die Kleinsten

Sag Atome, sage Stäubchen.

Sind sie auch unendlich klein,

Haben sie doch ihre Leibchen

Und die Neigung da zu sein.

 

Haben sie auch keine Köpfchen,

Sind sie doch voll Eigensinn.

Trotzig spricht das Zwerggeschöpfchen:

Ich will sein, so wie ich bin.

 

Suche nur, sie zu bezwingen,

Stark und findig, wie du bist.

Solch ein Ding hat seine Schwingen,

Seine Kraft und seine List.

 

Kannst du auch aus ihnen schmieden

Deine Rüstung als Despot,

Schließlich wirst du doch ermüden,

Und dann heißt es: Er ist tot.

Wilhelm Busch (1832 - 1908), deutscher Zeichner, Maler und Schriftsteller; Quelle: Busch, Gedichte. Zu guter Letzt, 1904

In Nacht und Wind

Ich möchte Leuchtturm sein

in Nacht und Wind –

für Dorsch und Stint –

für jedes Boot –

und bin doch selbst

ein Schiff in Not!

Wolfgang Borchert

Kopfgewühl

Ein Spiegel zeigt, das ist uns klar,

nur das, was ist, nicht das, was war.

Doch was uns prägt seit früher Zeit,

liegt unbewusst für uns bereit,

kommt manchmal hoch ganz ungefragt,

macht freudig uns und auch verzagt.

Durch Ordnung in dem "Kopfgewühl"

trennt sich die Stimmung vom Gefühl!

Dieter Natus