Kosakenschicksal
Etwa 200 Jahre ist es nämlich her, da überquerte ein stolzer Kaiser von Westen kommend nacheinander den Rhein, die Elbe, die Oder, die Weichsel, ja, sogar die Pripjetsümpfe, bis er Moskau beinahe kampflos eroberte. Aus allen eroberten Ländern requirierte er Truppen. Nicht immer hatten sich diese Soldaten gerne beim großen Napoleon anwerben lassen. Viele waren nach einem feucht-fröhlichen Gelage in einer Kaserne aufgewacht, wo ihnen eröffnet wurde, sie hätten sich letzte Nacht freiwillig zur Armee gemeldet. Zum Beweis zeigte man ihnen ihre eigene Unterschrift oder drei Kreuze, wenn sie des Schreibens nicht kundig waren. Wie groß war da der Schrecken der frisch „gebackenen“ Soldaten! Doch sie mussten kämpfen, sonst drohte ihnen das Spießrutenlaufen!
Zunächst errangen sie Sieg um Sieg. In Moskau aber wendete sich das Schicksal des großen Kaisers: Hunger, bitterer Frost und der Brand der Stadt besiegten das riesige Heer in wenigen Wochen. Der große Napoleon selbst ergriff die Flucht! Nun gab es für die Truppen kein Halten mehr. Auch sie machten sich auf den Weg nach Hause. Freilich konnten nicht alle Soldaten auf freundliche Aufnahme daheim rechnen, hatten sie doch mit dem Eroberer zusammengearbeitet!
So erging es auch einem Trupp von Steppenkosaken, die nun ungewollt mit dem Rest des einstmals riesigen Heeres nach Westen flohen, vielleicht in der Hoffnung, irgendwo dort werde der Kaiser Rückhalt finden und sein Niedergang ein Ende haben. Sie wurden enttäuscht. Schlachten gingen verloren. Mann um Mann starb. Bald waren die Kosaken nur noch ein kleiner Trupp ohne Anführer, der ein baldiges Ende der unfreiwilligen Reise erhoffte. Schließlich waren nur noch zwei Männer übrig, die sich mit wunden Füßen über staubige Straßen schleppten. Ihre Pferde, die ihnen so treu gedient hatten, zogen sie hinter sich her. In dem kleinen Dorf Mauloff im Hochtaunus blieben sie irgendwann völlig entkräftet liegen. Mitleidig wies man ihnen jeweils einen Schafstall für Pferd und Eigentümer zu, fütterte sie durch, bis sie wieder bei Kräften waren.
Und dann kam es, wie es kommen musste: Die schwarzen Augen der Kosaken blieben immer öfter an den braunen oder blauen der Tochter des Hauses hängen. Der Bauer fand Gefallen am Fleiß und am Pferd des Kostgängers. Irgendwann gab es Gründe, rasch den Pfarrer aufzusuchen und um den Segen des Herrn für eine bevorstehende Heirat zu bitten. Was mussten sich die Mädchen da anhören! Hochzeitsfeierlichkeiten fanden keine statt, in der Kirche mussten die Paare öffentlich bekennen, dass sie in Sünde miteinander lebten und Kirchenbuße tun. Welche Schande brachten sie damit in der damaligen Zeit über ihre Familien! Mit dem öffentlichen Sündenbekenntnis in der Kirche wurden die Paarbindungen legalisiert und die ehemals Fremden wurden ins Dorfleben einbezogen.
Wer nun denkt, damit sei ein Happyend erreicht, der irrt. Das Kirchenbuch vergaß nicht, dass die ehemaligen Soldaten niemals konfirmiert worden waren. Als sie alt und krank starben, durften sie nicht in geweihter Erde bestattet werden. Außerhalb der Friedhofsmauern wurden Gräber für sie ausgehoben. Zum Andenken an ihre Herkunft aus weiter Ferne wuchs Gras über ihren Särgen, wie es in der Steppe üblich gewesen war. Eine Eberesche ragte stattlich empor. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges drehten sich über ihren Gräbern eiserne einarmige schmiedeeiserne Flügel, Wegweisern ähnlich, wie sie als Kennzeichen für ein Grab in der fernen Heimat üblich waren. Den Kindern der Nachkommen wurde zwar verboten, die drehbaren Grabmale als Karussell zu nutzen, doch auf ihre Fragen nach dem Warum gab es keine Antworten. Niemand wollte mehr wissen, was diese quietschenden Pfosten bedeuteten. Das hatte wiederum einen triftigen Grund: Während des „Dritten Reiches“ waren Arier-Nachweise Pflicht. Wer als „rassenreiner“ Deutscher gelten wollte, musste mindestens vier Generationen in Deutschland geborener Vorfahren nachweisen. Einige ältere Einwohner Mauloffs hatten damit massive Probleme. Im Kirchenbuch waren zwar die Nachkommen der Kosaken, aber keine Väter angegeben.
In der Bevölkerung des Dorfes gibt es noch heute gelegentlich Kinder mit rabenschwarzen Augen.