DU MEIN STILLES TAL

 

Eine Auseinandersetzung mit dem Heimatroman von Maria Berlinger, der als Fortsetzungsroman in der FRANKFURTER NEUEN PRESSE veröffentlicht wurde.

Er wird hier in vollem Wortlaut abgedruckt und von Adelheid Natus an verschiedenen Stellen kommentiert (Schrägdruck).

 

Vorwort (Adelheid Natus)

Kaum irgendwo sonst werden die Abgründe menschlichen Seins so offenbar wie in dem, was ein Mensch zu verheimlichen versucht. Dennoch ist gerade der Wahrheitsgehalt des Verschwiegenen meist nicht zu bezweifeln. Bezeichnend ist dabei, welche Wogen der Erregung durch Mauloff gingen, als die Bewohner Tag für Tag im Fortsetzungsroman schon längst vergessen Geglaubtes enthüllt sahen und in den umbenannten Figuren sich selbst oder ihre Mitbürger wiedererkannten. Irma Ullrich, geb. Ott, fand in ihrer Erregung für dieses stilistisch sicher Mängel aufweisende Werk die Bezeichnung „Schundroman“. Ihr ging es um die Sichtweise der eigenen Person.

Im vorliegenden Abdruck dieses „Heimatromans“ habe ich versucht, aus meiner eigenen Erinnerung, vor allem aber aus den Erzählungen meiner eigenen Familie solche Lücken zu füllen. Alles Schräggedruckte ist w a h r !

In einer kleinen Dorfgemeinschaft erreicht solche Aufklärung unter Umständen eine ungeahnte Explosivkraft. Darum werde auch ich mich dem Kreis derjenigen anschließen, die den Mantel des Schweigens über die Geschichten von damals breiten. Ich möchte den Rest meines Lebens in Ruhe und in Frieden mit den noch Lebenden von damals und mit ihren Nachfahren verbringen und bitte deshalb alle, die Exemplare mit Schrägdruck erhalten, gerade über dessen Inhalt Schweigen zu bewahren, bis ich nicht mehr lebe.

 

Adelheid Natus, geb. Scherer

 

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Du mein stilles Tal (Maria Berlinger)

- Presserechte: Pegasus Verlag, 6330 Wetzlar -

 

Als die junge Frau den Hochwald verließ, empfing sie die feuchte Kühle des Herbstmorgens. Bodennebel zogen durch den Wiesengrund und lagen auch auf der holprigen Fahrstraße, die zum Dorf führte. Obwohl noch keine Häuser in Sicht waren, drangen entfernt aus dem Dunst Hundegebell und das Krähen eines Hahnes. Irgendwo auf einem Seitenweg rumpelte ein Bauernwagen. Die zwei kleinen Buben an der Seite ihrer Mutter sprangen voraus oder blieben zurück bei ihren kindlichen Erkundungen am Straßenrand. Einige späte Brombeeren gab es da noch, Hagebutten und unter einem Obstbaum rotbackige Spätäpfel. Als sie hinter sich einen Lastwagen hörten, sprangen die Buben zur Seite. Es war das Milchauto, voll mit Kannen beladen, auf der Rückfahrt von der Früh-Tour durch die kleinen Taunusdörfer.

 

Aus dem Nebel lösten sich jetzt die Umrisse schiefergedeckter Gebäude, wobei sich das schwache Hellblau kaum von den milchig-grauen Schwaden abhob. Auf einer Wiese dicht am Weg mähten zwei Frauen den letzten spärlichen Schnitt zum Grünfüttern. Auf das freundliche „Guten Morgen“ öffneten sich kaum die Lippen zur Erwiderung des Grußes. Die unbewegten Gesichter drückten - wenn überhaupt etwas – eine Spur von Neugierde aus. Die junge Frau fragte: „Können Sie mir sagen, wo das Haus zu vermieten ist?“ Sie wussten sofort Bescheid, kein Wunder bei den kaum dreißig Anwesen, die nun gut überschaubar vor der Ankommenden lagen. „Das Haus gehört meinem Tochtermann“, sagte die Ältere, „er wohnt im dritten Haus links in der Obergasse. Da erfahren Sie alles. Wo die Straße sich teilt, gehen Sie rechts die Obergasse hinauf, links führt die Untergasse zum nächsten Dorf. Ober- und Untergasse sind durch die steil abfallende Hintergasse verbunden.“ Das war mehr Information als erwartet, samt Straßenplan der kleinen Gemeinde.

 

Die Stadtfrau klopfte an die verwitterte Haustür, die neben dem geschlossenen Hoftor ins Innere führte. Ein ebenerdiges Fenster öffnete sich. Es erschien das Gesicht eines Bauern, er hatte die Mütze tief über den Kopf gezogen. Mit abschätzendem Blick fragte er nach dem Begehr. Die Frau stellte sich vor: „Ich bin Barbara Kolb und das sind meine Söhne Rainer und Florian. Ihre Anzeige wegen der Hausvermietung habe ich im Frankfurter Generalanzeiger gelesen. Kann ich mir das Anwesen ansehen?“ Mit verschlossenem Gesicht erklärte der Mann: „Hat keinen Sinn etwas anzusehen, ist bereits vermietet.“ „Nicht einmal hereinführen tut er mich“, dachte die junge Frau, „wo ich drei Stunden mit Bahn, Bus und Fußmarsch brauchte, um in dieses Nest zu gelangen. Unfreundlicher konnte der Empfang nicht ausfallen.“ Doch tapfer schluckte Barbara die Enttäuschung. „Kann ich nicht ganz kurz das Haus von außen sehen?“ fragte sie, „da ich doch den weiten Weg hierher gemacht habe. Und ist die Vermietung schon ganz perfekt?“ Wortlos schloss der Mann das Fenster, kam auf die Dorfstraße und zeigte auf das einige Häuser weiter liegende Gehöft. Es war ein windschiefes Fachwerkhaus, dessen Eingang in einem großen Innenhof lag, abgeschlossen durch ein großes Holztor, wie fast alle Höfe hier. Langsam ging die Frau auf das Haus zu, der Mensch mit den Nagelschuhen neben her. Dann öffnete er eine kleine Lauf-Tür, so dass der Bauernhof mit Wirtschaftsgebäuden und Hauseingang übersehbar war. Auch die Haustür schloss er auf und zeigte alle Räume, die sich in frisch hergerichtetem Zustand befanden. Das Innere erwies sich als größer und gemütlicher als von außen vermutet werden konnte. „Das gibt zwei Wohnungen“, erklärte der Bauer die Räumlichkeiten und im Widerspruch zu der Zeitungsanzeige sowie der klaren Ablehnung: “Eine davon können Sie vielleicht haben.“ Dabei verlor die Miene etwas von der strengen Unzugänglichkeit, während ein wohlwollender Blick die Buben streifte. Anschließend erfuhr Barbara, dass ein Bauernsohn aus der Gemeinde einen Bekannten aus der Stadt interessiert habe, der aber nur auf die Hälfte der Räume reflektiere. „Ich nehme nicht jeden hier auf, aber der ist mir schon recht“ erläuterte der Bauer mit dem Besitzerstolz eines kleinen Königs. Das „Aufnehmen“ und nicht „jeden“ klang nach Gnade und Gunst. Doch die geforderte Miete hielt sich beinahe auf der Höhe einer normalen Stadtwohnung. Sie fragte abrupt: „Wie komme ich am schnellsten aus dieser Einöde zurück zur nächsten Bahnlinie?“ „Da geht in einer Stunde das Postauto bis zur Kreisstadt und gegen Abend das Milchauto. Wenn noch Platz ist, können Sie mitfahren. Wann die Züge nach Frankfurt abgehen, weiß ich nicht.“ Die plötzliche Ablehnung der Frau spürend, taute der Unnahbare auf und lud sie ein, in seinem Haus zu warten.

 

Eine abgerackerte Fünfzigerin hantierte in der Küche. Sie wischte die Hände an der Schürze ab und begrüßte Barbara. Dann saßen sie zusammen in der Wohnstube. An der Wand stand vor einer harten Holzbank der große eichene Tisch, mit einem Wachstuch bedeckt, in einer Ecke der alte Sekretär. Bilder der Familie und Vorfahren als Brautpaare, Soldaten, Konfirmanden verdeckten teilweise die verblasste Blumentapete. Ein Wandbehang hinter der Bank zeigte röhrende Hirsche. Die Bauersfrau schien der Besucherin Blick dorthin aufgefangen zu haben: „Gefällt der Ihnen? Der Kaufmann, der jedes Jahr einmal kommt, hat ihn für uns besorgt“ verriet sie. Aus den nachfolgenden Worten war zu entnehmen, dass der „Kaufmann“ ein Hausierer war, sich in Abständen sehen ließ und im Dorf stets etwas aus dem Koffer los wurde. Blickfang in dem niedrigen Raum bildete das lange Ofenrohr mit der verbrannten Silberbronze, in Winkeln und Knien unordentlich quer durch den Raum verlegt. Barbara beendete das leere Gerede vom Wetter mit einigen Bemerkungen zu ihrer Person und den Verhältnissen, in welchen sie lebte: „Mein Mann ist seit Kriegsbeginn Soldat. Das Geschäft, ein Elektro-Großhandel, ruht seitdem. Wegen der Bombenangriffe, jetzt, wenn ich nachts mit den Kindern im Luftschutzkeller saß, reifte der Entschluss, aufs Land zu ziehen. Evakuierungen werden kommen. Ich will nicht darauf warten, sondern freiwillig die Stadt verlassen. Es fällt nicht schwer, denn das Leben in der Natur liegt mir. Von den Vorfahren her, die Bauern und Beamte waren, scheint noch Bauernblut in meinen Adern zu fließen.“ So erfuhren es die Bauersleute, und sie hörten es gern. Es weckte eine Spur von Sympathie.

 

                                                                       *

 

Barbara hatte das Haus schon abgeschrieben. Teilen würde sie es keinesfalls mit Menschen, die sie erst kennen lernen würde, wenn es zu spät war. In einem kleinen Bauernhaus lebt man zu dicht beieinander, Tür an Tür, ganz anders als in der abgeschlossenen Stadtwohnung. Sie sprach das offen mit einer kleinen Schadenfreude aus. Die Gesinnungsänderung auf des Bauern Zügen, freundliches Lächeln statt finsterer Verschlossenheit, war unverkennbar. Obwohl man sich nicht geeinigt hatte, bat er, ihre Adresse zu hinterlassen, vielleicht ... er ließ den Satz offen.

 

Es wurde Zeit, zum Postauto zu gehen, das um zwölf am Bürgermeisteramt hielt, wo die Poststelle der Gemeinde war. Es standen einige Männer und Frauen herum, die auf die Zeitung oder Posteingang warteten. „Na Karl, haste Besuch gehabt“, sagte ein älterer Mann, indem er Barbara neugierig musterte.

 

Erste Fortsetzung

 

Der erzählte, dass die junge Frau das Haus angesehen habe und aus der Stadt sei. Da unkte der Rentner, sich das Herausziehen aufs Land gut zu überlegen: „Die lassen einen Stadtmenschen glatt verhungern“, kommentierte er. „Ich bin auch aus der Stadt hergekommen. Das gelb getünchte Häuschen da oben, Waldfriede steht an der Fassade, habe ich mir selbst gebaut.“ Karl gab dem Alten einen Rippenstoß und sagte: „Hol dir morgen deine Metzelsuppe mit Wellfleisch ab und mache die Leute nicht schlechter als sie sind.“ Ein Kreis hatte sich gebildet und die junge Frau stand mitten drin, während die Kinder schon ein Kätzchen aus der Nachbarschaft adoptieren wollten. Als bald darauf der Postwagen kam, saßen schon zwei Personen neben dem Fahrer. Der Karl Wagner, wie er sich ganz zuletzt noch vorgestellt hatte, drückte dem Postboten ein Geldstück extra in die Hand. „Nimm die Frau doch noch mit“, bat er, „kriegst auch ein gutes Frühstück von der Hausschlachtung.“ Man rückte zusammen und die zwei Kleinen wurden auf den Schoß genommen. Die Gruppe vor der Bürgermeisterei aber winkte freundlich nach, besonders der Karl Wagner, so als wäre eine gute Bekannte abgefahren.

 

                                                                       *

 

Barbara Kolb hatte den Dorfbesuch fast vergessen, als es nach einigen Tagen an der Tür ihrer Stadtwohnung klingelte. Zu ihrem Erstaunen stand der Bauer aus dem Hintertaunus, fröhlich wie zu einem Freundschaftsbesuch, vor ihr. „Hatte zufällig in der Stadt zu tun, wollte nur mal Guten Tag sagen“, schwindelte er schmunzelnd. Barbara bat ihn herein, setzte sich mit ihm ins Wohnzimmer. Sie machte Kaffee und brachte dazu  von dem selbst gebackenen Kuchen. Der Bauer bewunderte die bürgerlich eingerichtete Wohnung, die nichts Besonderes aufwies. Gegenüber seinem ärmlichen Zuhause erschien sie ihm anscheinend als Luxusherberge. Dies und die freundliche Aufnahme beeindruckten offensichtlich, so dass er schnell zur Sache kam. „Frau Kolb, ich bin bereit, Ihnen das ganze Haus zu vermieten.“ Zögernd und diplomatisch antwortete die Frau: “Es liegt noch ein interessantes Angebot vor. Ich muss mir die Sache überlegen und werde Ihnen in einigen Tagen meine Entscheidung mitteilen.“ Diese kleine Lüge war die süße Rache für das unfreundliche Verhalten beim kürzlichen Dorfbesuch. Barbara sagte bald darauf zu und zog schnell entschlossen nach Rainfeld. Als die letzten Kartoffeln geerntet wurden, stand die Stadtfrau mit ihren Kindern schon auflesend im Feld dabei. Die Nachbarn beobachteten es argwöhnisch. „Kenne sich einer in den Städtern aus“, flüsterten sie sich zu. „Neue Besen kehren gut.“

 

In der nächsten Zeit erlebte es die junge Frau öfter, dass man unverhohlen Allem mit Misstrauen begegnete, was aus der Stadt kam. Überwiegend wurde es mit faul und verworfen identifiziert. Seit Jahrhunderten lebten die Menschen in den schwer zugänglichen Dörfern in Feldbergnähe isoliert. Es gab kaum Kontakte zur Stadt. Die langsam sich entwickelnde Motorisierung war bis auf Ausnahmen noch nicht bis zu dieser Abgeschiedenheit vorgedrungen, außerdem durch den Krieg gebremst worden. Aus dieser Unkenntnis heraus entwickelte sich eine überhebliche Selbstgefälligkeit, gestützt durch harte Arbeit und Pflichterfüllung.

 

Zu Anfang des Krieges existierte noch nicht der Trend von der Stadt zum Land. Diese Bewegung entwickelte sich in dem Maße, wie die Bombenangriffe auf die Städte zunahmen. Später wurde der Höhepunkt erreicht, als der Flüchtlingsstrom aus dem Osten Westdeutschland überschwemmte. Das erklärte die bessere Position der Kleinfamilie. Sie konnte langsam in die dörfliche Gemeinschaft hineinwachsen, ehe die turbulente Zeit der Zwangsevakuierungen und Einquartierungen anbrach.

 

In dem allein bewohnten Anwesen am Wald wurde das gewohnte Familienleben in Grenzen weiter geführt. Die ländliche Umwelt drang nur allmählich ein, brachte Nachteile und Vorteile. Vorsichtiges Beschnüffeln gab es von beiden Seiten, ehe Barbara in das Dorf-Leben hineinwuchs. Bewusst legte es die Stadtfrau darauf an, nicht als Außenseiterin zu gelten, schon um der Kinder willen, aber auch aus materiellen Erwägungen. Die rationierte Lebensmittelzuteilung war unzureichend. Der Selbsterhaltungstrieb zwang zur Erschließung bescheidener Zusatzquellen. Dass Solches nicht ohne Einsatz und Opfer zu erhalten war, erfuhr die junge Frau bald. Abends ging sie gelegentlich in die Nachbarschaft, Milch zu kaufen für die Kinder. Beim ersten Mal bekam sie überall etwas. Doch das ließ nach. Als sie eines Abends in der Küche eines Bauernhauses höflich angefragt hatte, reagierte die Bäuerin nicht auf die Bitte, ließ die Frau unbeachtet mit ihrem Topf stehen und hantierte in einer Ecke. Nachdem diese lange genug gewartet hatte und die Frage wiederholte, so schwer es auch fiel, wurde der knappe Bescheid gegeben: „Es ist verboten, privat etwas abzugeben, alles läuft über die Molkerei.“ Barbara verließ das Haus wie ein geprügelter Hund.

 

Kontakte zu den Bauersfrauen ergaben sich bald beim abendlichen Birnenschälen und Zwetschenentkernen im Spätherbst. In großen Mahnen stand das in der Reife süß duftende Obst in der Wohnstube bereit. Die Hausfrau saß mit den geladenen Nachbarinnen, darunter „Die Neue“, um den blanken Tisch und bereitete die Latwerge vor, die im Waschkessel lange und sehr steif gekochte Marmelade. In Steinguttöpfen hielt sie sich Jahre lang. Damit war vorgesorgt, falls es obst-arme Jahre gab. Dieses Mus kam täglich auf den Kaffeetisch und gehörte zu den Grundnahrungsmitteln im bescheidenen Speiseplan. Es gab Bauern, die kalte Pellkartoffeln vom Vorabend zum Frühstück in Scheiben auf der Herdplatte anwärmten und als Nascherei mit Latwerge bestrichen. Die Tradition der gemeinsamen Obstverwertung dauerte Tage, bis alle Familien der Reihe nach eingekocht hatten. Es war eine schöne Sitte, die alle wieder einmal zusammenführte, Unstimmigkeiten ausräumte und keinesfalls als Arbeit empfunden wurde. Bei Gesang und Austausch hausfraulicher Erfahrungen verflog die Zeit.

 

Das argwöhnische Beobachten der Städterin ließ nach. Man schien sie als ganz normale solide Hausfrau zu akzeptieren. Uninteressant erschien sie auch im Sinne unmoralischen Verhaltens. Der Bürgermeister hatte es nicht versäumt, den Karl beizeiten zu warnen: „Bring mir ja keine Fremden ins Dorf, mit denen wir unsere Last bekommen.“ Das war die schlimmste Befürchtung des Dorfältesten gewesen. Die heimlichen Späher, die in der Dunkelheit das abseits liegende Haus umstrichen, zogen bald enttäuscht ab. Durch die kaum verhangenen Fenster gab es nichts Aufregendes oder Sittenwidriges zu sehen. Eine hübsche junge Frau saß handarbeitend neben dem Ofen, zu ihren Füßen spielten zufrieden die Kinder. Oder sie saßen neben der Mutter, die ihnen etwas vorlas. Außer den Buben gab es für Barbara wenig Freude und Anregung, dafür mit viel Arbeitseinsatz geringen Nutzen.

 

Der erste Winter auf dem Land brachte Schnee, der eines Morgens hoch vor der Haustür lag. Barbara Kolb war die Erste beim Schneeschaufeln. Die Nachbarn beobachteten es hinter den gelupften Vorhängen der kleinen Fenster. Auf dem Anwesen war viel wegzuräumen, einmal auf dem großen Hofgelände, und die Straßenlänge vor dem Haus kam noch dazu.

  • (Rainfeld = Mauloff; Barbara Kolb = Frau Berlinger; Karl Wagner = Gustav Ott II, Vater von Hartmut = Helmut Ott, wohnte damals mit Familie im Anwesen, das heute der Familie Harzer gehört. Die „abgerackerte Fünfzigerin“ = Lina Ott, Frau von Gustav Ott und Mutter von Helmut Ott. Der Bürgermeister: Gustav Bachon, Vater von Ewald Bachon, Paula Biegel  und Thea Haub. Der Rentner im Haus „Waldfriede“ = Wilhelm Guckes).       

 

                                                                       *  

2. Fortsetzung

 

Im Übrigen kamen jetzt die ruhigen Wochen des Dorflebens. Die Frauen hatten natürlich ihre Handarbeit wie das ganze Jahr. Körbe voll Flickwäsche hatten sich angesammelt, die in dieser Zeit weg-geräumt werden mussten. Die Männer zogen neue Zinken in die hölzernen Heurechen, hackten Holz, banden Reisigwellen zum Brotbacken,

  • (das geschah im Wald mit den von den Holzfällern liegen gelassenen Ästen)

ersetzten morsches Holz an Stalltüren, Schubkarren und Kuhwagen. Es blieb genug Zeit zum Durchhecheln unbeliebter Dorfbewohner und Besprechung der kleinen Neuigkeiten. Abends verlief sich ab und zu eine Bauersfrau mit dem Strickstrumpf zu der „Neuen“. Gegen Weihnachten gab es in den meisten Höfen Schlachtfest. Großzügig bot man der Städterin eine Wurstsuppe an, die sie gerne annahm.

  • (Die meisten Bauern gaben auch noch zwei kleine Wurstringe dazu. Meine Mutter schickte mich mit „Metzelsuppe“ und Würstchen am Abend jeden Schlachttages zu allen Respektspersonen = dem Lehrer, später der Krankenschwester, zum pensionierten Pfarrer, zu allen Nachbarn und zu allen Flüchtlingen, die nicht bei Bauern im Haus wohnten, bis Ende der 50er Jahre)

„Mama, wir freuen uns so auf Weihnachten“, plapperten Barbaras Buben. „Was wird das Christkind denn bringen?“ Die Mutter seufzte: “Im Krieg ist es auch für das Christkind schwer, etwas zu bescheren.“ Die bescheidenen Freuden der Kriegsweihnacht wurden für die Kinder vorbereitet. Zu kaufen gab es wenig. Da blieben nur Handarbeiten und Basteleien. Das Bäumchen aber durfte auf der gemeindeeigenen Heide, die dem Wald vorgelagert war, kostenlos geschlagen werden. Es war für Mutter und Kinder ein unvergessenes Weihnachtserlebnis, als sie einige Tage vor dem Fest zu Rainer und Florian sagte: „Heute holen wir uns das schönste Tannenbäumchen auf der Heide, das wir entdecken.“ Die kleine Familie stapfte durch den tiefen Schnee zur nahen Heide, und die Mutter hackte den Baum ab, den die Buben sich wünschten. Als er am Weihnachtsabend im Kerzen- und Flitterschmuck strahlte und das wohlig-warme Wohnzimmer, dank dem alten grünen Kachelofen, mit seinem harzigen Duft erfüllte, strahlten die Kinder schon beglückt, noch ehe sie die Geschenke ausgepackt hatten. Wie leicht sind Kinder in diesem Alter noch zu erfreuen! Rainer und Florian waren jetzt fünf und sieben Jahre alt.

 

Als Barbara am frühen Weihnachtsabend bei der Frau des Hausbesitzers die Milch holte, verspürte sie nicht die geringste Feststimmung. Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein. Als der zwölf-jährige Sohn Hartmut zur Tür hereinkam, schrie ihn die Mutter an: „Mach dich raus auf die Heid’ und hol den Baum, es wird ja schon dunkel!“ Dann zeigte sie ein halbfertiges Strickzeug, das als Geschenk unter den Baum gelegt wurde.

  • (Hartmut = Helmut Ott)

Mit dem nahenden Frühling begannen im Dorf wieder die Außenarbeiten. Einladend meinte Karl Wagner: „Jetzt fängt die Feldarbeit an, die macht Ihnen doch Spaß? Ist auch sehr gesund!“

 

Wo gearbeitet wurde, packte Barbara zu, nichts war ihr zu gering. Man beachtete es mit Wohlgefallen. Zu dem gemieteten Haus gehörte ursprünglich ein großer Garten mit altem Humusboden. Der listige Besitzer verkaufte ihn vor der Vermietung zu einem guten Preis an einen Nachbarn. Dafür stellte er der Stadtfrau eine karge Waldwiese zur Verfügung. „Da können Sie einen Garten nach Ihrer Vorstellung anlegen.“ Dies erwies sich als ein hartes Stück Arbeit. Beim Versuch des Rodens kamen mehr Steine zum Vorschein als nutzbarer Boden. Die Steine wurden in den Wald getragen, auf dem Rückweg kam schwarze Wald-Erde in den zukünftigen Garten. So rang die Frau Stück um Stück dem Gelände eine nutzbare Fläche ab. Grinsend sah der Karl zu: „So wird’s gut, und Sie haben Zeitvertreib.“ Barbara konterte: „Da fehlt nur noch eine Fuhre Dung zum Ertrag.“ Karl schüttelte den Kopf: „Ist auch so schon gut. Den Mist brauchen wir auf unseren Äckern.“ Trotzdem wurde die Gärtnerin aus Liebe außer dem Stolz auf das mühsame Werk mit annehmbaren Ernten belohnt. Der Speisezettel konnte durch frisches Gemüse und Salat bereichert werden. Im Übrigen gehörte die Gartenarbeit zum Privatvergnügen.

 

Mit dem Kartoffellegen fing es am Rainfelder Hang an und endete mit der Rübenernte im Spätherbst auf dem Weiler Berg.

  • (Falsch. Kartoffeln und Rüben mussten im gleichen Feldbereich angebaut werden, das schrieb die Dreifelderwirtschaft vor. Die drei Felder hießen Hinterfeld, Kreuzfeld und Seelfeld.)

Barbara war überall, wo Hilfe Not tat. Es gab Lücken, denn ein Mann nach dem anderen im wehrfähigen Alter wurde zum Kriegsdienst einberufen. Alle landwirtschaftlichen Arbeiten waren noch in Handarbeit mit Hacke und Pflug zu leisten. Kühe lieferten nicht nur die Milch. Sie zogen auch paarweise den Bauernwagen, sei es für Aussaat und Einbringung der Ernte, Holzabfuhr oder die Fahrt zur Mühle.

 

Karl Wagners Frau stöhnte: “Das Unkraut steht dieses Jahr höher als die Kartoffeln. Allein schaff’ ich es nicht.“ Barbara versprach: „Ab morgen gehe ich mit hacken, dann bringen wir es schon hinter uns.“ Die beiden Frauen standen Tage lang allein bei der mühsamen Arbeit, manches Andere blieb liegen, die Kinder kamen zu kurz.

 

Dann begann die Heuernte. Morgens um vier stand die Stadtfrau in Reih und Glied mit den noch verbliebenen Männern der Nachbarschaft in den tauigen Wiesen, um das Gras zu mähen. Die Männer lachten über ihre stoppelige Mahd, achteten aber den guten Willen. „Frau Kolb, haben Sie überhaupt schon einmal eine Sense in der Hand gehabt?“ foppte einer. Die Antwort war ehrlich: „Noch nie in meinem Leben, ich kann’s beschwören.“ Dann wurde sie belehrt: „Einen schweren Muskelkater werden Sie sich holen, weil Sie so verkrampft arbeiten. Den Mücken scheinen Sie auch besonders gut zu schmecken, denn Ihr Gesicht ist schon verschwollen.“ Tröstlich aber wurde ihr versichert: „ Beim Heuwenden werden Sie entschädigt, das ist die reinste Spielerei dagegen.“

 

Ins Heu zogen sich die Bauersfrauen besser an als bei den übrigen Arbeiten. Man machte sich nicht schmutzig und verdarb nichts. Karls Frau riet der unerfahrenen jungen Frau: „Fürs Heu haben wir hier einen besonderen Staat: Bessere Schuhe, ein neues Kopftuch, ein frisches, geblümtes Sommerkleid, darüber eine Schürze.“ Tatsächlich wurde es im Heu ein kleines Fest. Alle Frauen sahen hübscher aus. Die hellen Kopftücher gegen die grelle Sonne und bunte Sommerkleider setzten freundliche Effekte im sonst so stillen Tal. An einem Hang am Weg setzte man sich zum Kaffeetrinken zusammen. Der Kaffee war in einer Milchkanne, schmeckte kräftig nach gebranntem Korn, und im Deckelkorb lagen Brot, Butter, Marmelade und der Rest vom Sonntagskuchen.

  • (Falsch: Der Kaffee wurde aus gerösteter Gerste gemahlen.)

Barbara fragte: „Welche Arbeit kommt danach dran, und ist sie auch so angenehm?“ Da musste sie hören, dass die Getreideernte in einigen Wochen schon härter war. „Das wird Ihren zarten Armen und Händen kaum gut tun“, meinte eine ältere Bäuerin. „Ziehen Sie sich ein Kleid mit langen Ärmeln an. Manchmal sind Disteln im Korn, dann sind auch Handschuhe angebracht.“ Barbara hatte die helle Haut der Rotblonden, die besonders empfindlich ist und auch die Sonne nicht gut verträgt. Statt der erwünschten Bräune zeigten sich nur einige Sommersprossen auf der Nase. Die Getreideernte im August war denn auch eine Strapaze. Die Sonne brütete über den reifen Ähren. Selten kam ein kleines, angenehmes Lüftchen auf. Dann wogten die großen Kornfelder wie Meereswellen.

 

Die zwei Stadtbuben wuchsen erstaunlich schnell ins Dorf-Leben hinein. Es war ihre Welt geworden. Tagsüber sprangen sie beim Arbeiten um die Mutter herum oder spielten mit den Dorfkindern. Den Dialekt beherrschten sie schon perfekt. Rainer, der Älteste, ging seit Kurzem in die Schule. Alle Jahrgänge wurden in einem Raum zur gleichen Zeit unterrichtet. In jedem zweiten Haus lebte ein Pflegekind, nicht etwa aus Kinderliebe, sondern für bares Geld von einer Fürsorgestelle.

  • (Falsch! Das  Nachkriegs-Schulklassen-Foto mit den Kindern Frau Berlingers  beweist, dass im ganzen Dorf damals drei Pflegekinder lebten bei 28 Häusern, bei den Familien Eist und Rudolf Steinmetz waren es später allerdings zeitweise je zwei.)

Wer es gut mit Barbara meinte, warnte sie: „Das sind keine guten Spielkameraden für Ihre Kinder.“ Natürlich hatte die Mutter längst die schlechten Manieren und Angewohnheiten einiger Spielgefährten der Buben erkannt. „Was soll ich tun?“ antwortete sie dann bedauernd, „ich muss es in Kauf nehmen.“ Obwohl die Behörden für die Pflegekinder bezahlten, wurden ihnen schon Arbeiten aufgebürdet, die über das zumutbare Maß hinausgingen. Mit häuslicher Geborgenheit und Pflege und ein wenig zärtlicher Zuneigung, die jedes Kind braucht, wurden sie knapp gehalten. Schon den eigenen Kindern wurde zu wenig von diesen Voraussetzungen geboten. Die meisten Familien im Ort hatten nur ein bis zwei Nachkommen.

  • (Die Familie Berlinger hatte auch ein gespaltenes Verhältnis zur Geborgenheit ihrer Kinder: Die Familie bestand ursprünglich aus der Mutter und vier Kindern: Der ältesten Tochter Helga, dem zweiten Kind und einzigen Sohn Gerd, der jüngeren Tochter Ilse und einem behinderten Mädchen, das ich nie kennen lernte. Meine Großmutter erzählte mir, das Kind habe in Mauloff schon viel geschrien und sei mit dem Einverständnis seiner Eltern (!) „fortgekommen in ein Heim“, wo es bald gestorben sei. Das war die damalige Lesart für Euthanasie.) 

 

3. Fortsetzung:

 

Barbara fragte eine junge Bauersfrau, ob es in Rainfeld schon so eine Art Familienplanung gäbe. Die Bauersfrau sagte: „Unnütze Brotfresser können wir hier nicht gebrauchen. Nur einer kann erben, ein Sohn, die Tochter vielleicht, wenn einer einheiratet.“ Die Überzähligen müssten in der Stadt ihr Brot verdienen und würden nichts Rechtes. Barbara wagte die Bemerkung: „Es scheint mir, dass Liebe hier nicht groß geschrieben wird. Denn wer seinen Partner liebt, wünscht sich Kinder von ihm und überträgt seine zärtlichen Gefühle auf diese.“ „Die Eltern planen die richtige Heirat: Vergrößerung des Besitzes, tüchtige Arbeitskraft zählen mehr als Schönheit und gute Eigenschaften.“ „Aus den gegebenen Verhältnissen heraus kann ich es beinahe verstehen“, pflichtete Barbara bei. Doch sie tat nur so, als sei sie überzeugt.

 

Objektiv gesehen gab es in dem nicht besonders fruchtbaren Hochtal keine wirtschaftliche Feldbestellung. Zusammenhängendes Gelände in einem Besitz fehlte. Parzelle um Parzelle mussten seit Jahren kleine Äcker, Wiesen und Baumgärten durch Heirat und Erblösungen aneinander gestückelt worden sein.

  • (Oder auch auseinandergerissen worden sein! Vgl. Nassauische Erbteilung!)

Dieser Zustand hatte neuerdings zu der vernünftigen Dreifelderwirtschaft geführt.

  • (Falsch! Seit Jahrhunderten gab es drei Felder: Hinterfeld, Kreuzfeld, Seelfeld)

In der Praxis bedeutete es, dass wechselweise in einem Distrikt Kartoffeln, Getreide und Rüben von allen Anliegern anzubauen waren, um Aussaat und Ernte nicht zu stören. Jeder war daran gebunden.

  • (Die richtige Aufteilung im Uhrzeigersinn: Ein Roggen- und Weizenfeld, ein Hafer- und Gerstenfeld, ein Kartoffel-, Rüben- und Kleefeld. Der Klee wurde schon ein Jahr vorher mit dem Hafer zugleich ausgesät und breitete sich im Schutz der Stoppeln aus.)

Mit dem großen Wiesengelände war es nicht anders. Die jeweiligen Besitzer hatten darauf zu achten, dass Ein- und Ausfahrt für jeden Erntewagen durch rechtzeitigen Beginn des Mähens als Durchfahrtsstraße gesichert wurde.

 

Bei einer sonntäglichen Unterhaltung mit einer Bauerntochter auf der Rundbank um die Dorflinde entspann sich folgendes Gespräch: Barbara: „Sind Sie eigentlich glücklich, so wie Sie hier leben?“ Irma: „Sehen Sie, ich bin in diese Verhältnisse hineingeboren. Mein Bruder erbt den Hof. Das Leben läuft für mich ab zwischen Stall, Feld und dem primitiven Bauernhaushalt, in dem Großmutter noch das Regiment führt. Ein Bauernsohn aus einer entfernten Gemeinde möchte mich heiraten. Mir eilt es nicht. Es wird sich für mich nichts ändern.“

  • (Irma könnte Irma Ott gewesen sein, Tochter von Gustav Ott I, dem Gemeinderechner. Sie ging  nach dem Krieg als Dienstmädchen nach Frankfurt „in Stellung“ und heiratete später einen aus Breslau stammenden Ingenieur. Sie stritt jedoch dieses Gespräch vehement ab und bezeichnete Frau Berlingers in der Frankfurter Neuen Presse abgedruckten Roman als „Schundroman.)

Barbara: „Sie sollten mal, wenn es die Arbeit zulässt, eine Beschäftigung in der Umgebung annehmen, etwas verdienen, mit anderen Menschen in Berührung kommen.“ Irma widersprach: „Es gibt keine Möglichkeiten. Vielleicht gelegentliches Servieren in einer Gastwirtschaft, in einer Gärtnerei in der Kreisstadt helfen, den Schulmädchen Handarbeitsunterricht geben.“ „Tun Sie’s!“ ermunterte Barbara. „Wollen Sie es mit meinem Vater verderben? Der würde Ihnen jetzt schon den verderblichen Einfluss aus der Stadt unterstellen. Alles soll beim Alten bleiben. Er will keine moderne Tochter haben, die unzufrieden ist.“ Barbara entgegnete: „Jeder mündige Mensch hat das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen. Deswegen braucht man nicht rebellisch zu werden. Wenn Ihr Bruder eine junge Frau ins Haus bringt, sind Sie das fünfte Rad am Wagen. Wollen Sie darauf warten?“ „Frau Kolb“, bat Irma, „machen Sie mich nicht noch aufsässiger, als ich es schon bin. Sie haben ja so Recht. Sehen Sie, mein Bruder, wie alle Bauernsöhne hier, geht jeden Winter in den Holz-Wald und verdient sich etwas. Der Gedanke, eigenes Geld in der Tasche zu haben, macht ihn freier. Das merkt man gleich. Einmal habe ich mit einer Freundin beim Aufforsten geholfen, kleine Bäumchen setzen. Da hatte ich auch das Gefühl, zu etwas nutze zu sein.“ „Wollen Sie an Winterabenden manchmal zu mir kommen“, lud Barbara ein, die die Trostlosigkeit und Resignation des Mädchens fühlte. „Danke, sehr gern“, stimmte Irma begeistert zu. „Ich bin gut in Handarbeiten, habe schöne Vorlagen für Norweger-Motive beim Pullover stricken.“ Barbara bot an: „Ich kann Ihnen auch Bücher leihen, falls Sie Zeit zum Lesen finden.“ „Wie gern lese ich Romane“, verschämt gestand es das Mädchen, als ob es etwas Unrechtes wäre. „Aber für Bücher ist bei Bauern kein Platz und sonst schwer dranzukommen. Beim Lesen vergisst man das eintönige Leben und träumt davon, dass es auch noch andere Dinge gibt als die, über die im Dorf gesprochen wird. Und wenn die Geschichten auch erfunden sind, manches Wahre steckt doch drin.“ “Das Leben schreibt die aufregendsten Romane“, bestätigte Barbara.

 

                                                                       *

 

Es bestand ein herzliches Verhältnis zwischen Mutter und Söhnen. Es war nur zu befürchten, dass die Einflüsse durch die Dorfkinder sich ungünstig auswirken könnten. Da blieb der Mutter nur das richtunggebende Zureden und Vorleben sowie die Hoffnung auf die ererbten Anlagen. Den Vater hatten die Buben seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.

  • (Später Widerspruch: Einmal in zwei Jahren war er da)

„Kommt der Papa bald?“ fragte Rainer, der Älteste, ab und zu. Allmählich entschwand er der Erinnerung seiner Kinder. Die Mutter las die un-regelmäßig eintreffenden Briefe stets vor und erklärte den Kleinen: „Im Krieg müssen viele Väter Soldat werden. Viel lieber blieben sie bei ihren Kindern. Hoffentlich darf Vater uns bald mal besuchen...“ Hoffentlich bald?

 

                                                                       *

 

Es war an einem Sonntagabend, als Barbara Kolb sich in einem plötzlichen Entschluss hinsetzte, um ein Tagebuch zu beginnen. Sie versprach sich davon Befreiung von trüben Gedanken, die in dem stillen Haus am Wald genährt wurden, ein Festhalten des Positiven und Negativen des Landlebens.

 

August 1942: Weil ich mich einsam fühle, schreibe ich in den leeren Raum, diskutiere in der Art eines Selbstgespräches mit mir selbst. Ich will seelisch nicht vor die Hunde gehen. Fast alle Kontakte aus der Zeit des Stadtlebens sind abgerissen. Es gab gute Freunde, Bekannte, Verwandte. Sie sind so entfernt, als lebte ich auf einem anderen Stern. Dabei beträgt die Entfernung zu dem „Früher“ kaum hundert Kilometer.

  • (Dichtung: Frau Berlinger kam wie die meisten Evakuierten aus Frankfurt. Bis dahin sind es 40 Kilometer. Aber die Frankfurter Bevölkerung hatte damals schon Nahrungs- und Überlebenssorgen und also Wichtiges zu tun.)

Briefwechsel ist kein Ersatz für menschliche Nähe. Außerdem ist bei den meisten Bekannten knappes, herzliches Schreiben üblich. Was es darüber hinaus in dieser Zeit des sich verhärtenden Krieges zu berichten gibt, sind Ängste, Sorgen, Not und Entbehrung. Ich selbst aber möchte trotz alledem, was mich auch anficht, darin nicht untergehen. Denn keine Situation kann so trostlos sein, als dass sie nicht noch etwas Sinnvolles hätte. Für mich birgt sie die Chance der Bewährung in sich. In normalen Zeiten wäre diese allein körperliche Forderung kaum jemals so dringlich in den Vordergrund gerückt. Stadtmenschen sind allgemein freier. Man kümmert sich nicht um Hausbewohner und Nachbarn, lebt nach seiner Vorstellung. Wer sich sympathisch findet, kommt in Verbindung. Die anderen begnügen sich mit oberflächlichem Gruß, gelegentlich ein paar hingeworfenen Worten. Die Enge des dörflichen Lebens schafft eine grundverschiedene Basis gegenüber der Stadt. Da gedeiht eine Scheinheiligkeit, Berechnung, Neugierde. Das ist nicht meine Welt. Dagegen sind meine Probleme nicht so groß. Gegen die Einsamkeit werde ich in den knappen Mußestunden lesen, denn ich habe einen gut sortierten Bücherschrank. Das tue ich erst, wenn die Kleinen schlafen. Vorher lese ich ihnen vor oder mache Gesellschaftsspiele mit ihnen. Von ihrem Vater erzähle ich ihnen und wie wir vor dem Krieg in der Stadt lebten. Dass wir jetzt ruhig schlafen könnten, während wir früher bei Bombenalarm im städtischen Luftschutzkeller zitterten.

 

Für mich aber frage ich, was meine Ehe überhaupt noch wert ist. Die Harmonie war schon gestört, ehe mein Mann zum Wehrdienst einberufen wurde. Als er Soldat wurde, meldeten wir das Geschäft ab. Ich ging zum Gewerbe- und Finanzamt und beantragte Aussetzung der steuerlichen Verpflichtungen. Es war ein rechtmäßiger Antrag und es wurde ihm stattgegeben. Da gab es einige Rückstände, denn das Geschäft florierte nicht mehr so recht wegen der wirtschaftlichen Stagnation aus politischen  Gründen. Als verantwortlich für das Büro war mein Mann äußerst kritisch und lastete mir Pannen persönlich an. Wie er selbst ein Arbeitsbesessener war, entwickelte er sich zum Antreiber für mich. Er berücksichtigte nicht, dass ich inzwischen zwei Kinder geboren und zu versorgen hatte, außer Haushalt und Büro. Viele Sonntage und Nachtstunden opferte ich, um auf dem Laufenden zu bleiben. Die Voraussetzungen, unter denen ich mich so jung gebunden hatte, erfüllten sich nicht. Es hatte mir vorgeschwebt, dass echte Zusammengehörigkeit sich gerade dann beweisen muss, wenn Schwierigkeiten zu meistern sind. Ein freundliches Wort, ein wenig Zärtlichkeit hätten Vieles erträglicher gemacht. Ich bin eine Frau von der Art, die das braucht. Aber das Strohfeuer der Leidenschaft war verpufft und nicht einmal die Geborgenheit einer kleinen Liebe ist mir geblieben. Er war mein erster und einziger Mann, und ich habe so an ihn geglaubt! Die Trennung trifft mich nicht. Einmal war er in zwei Jahren hier auf dem Dorf bei uns. Er kritisierte, wie ich mich eingerichtet hatte, schimpfte über alles und alle. Auf meine zaghafte Bemerkung, ob wir nicht die wenigen Stunden einträchtig genießen könnten, reagierte er absolut ahnungslos. Er sage nur einfach seine Meinung und das habe nichts mit seiner unveränderten Zuneigung zu tun, ich sei zu empfindsam. Wenn ihm etwas passieren sollte, wenn er nicht zurückkommt, so will ich ihn nicht in Unfrieden ziehen lassen. Er ist doch mein Mann, der Vater unserer Kinder, die er sehr liebt. „Ich bin etwas nervös, weil ich mir Sorgen um dich mache“, habe ich mir abgerungen, statt in die gleiche Kerbe zu hauen. Und ich würde es heute wieder sagen, denn ich bin nicht herzlos, nur gekränkt. Vielleicht führt diese erzwungene Trennung auf Zeit uns wieder zusammen, damit liebevolles Miteinander vorrangig wird. Denn die üblichen und immerwährenden Diskussionen über Unwichtiges, Alltägliches, Geschäftliches, die von dir so hart interpretiert werden, töten meine Gefühle ab. Dennoch: „Ich werde dir die Treue halten.“

 

4. Fortsetzung

 

Es ist spät geworden. Aber ich habe Bilanz gemacht und mich selbst getröstet. Morgen wird die Sonne wieder scheinen. Ich helfe die Garben auf den Wagen laden und werde oben drauf sitzen wie eine richtige Bauersfrau und Harhot rufen. Das tut der Bauer, der die Kühe auf dem steilen Fahrweg führt, mit mehr Erfolg. Wenn es unter den tief hängenden Ästen der Apfelbäume am Wegrand durchgeht, muss ich mich tief bücken, um den Kopf zu schützen. Müde gearbeitet, werde ich die beruhigende Naturnähe genießen. Die herbe Schönheit dieses abgelegenen Tales sehe ich mit offenen Augen, wie die Menschen, deren Heimat sie ist, dafür blind geworden sind. Der plätschernde Bach in der Senke teilt das lang gestreckte Wiesental, das sich in leichtem Gefälle verengt und in ein kleines Wäldchen mündet.

 

Als ich mich noch einmal über meine friedlich schlafenden Kinder gebeugt habe, deren Gesichtchen im tiefen Schummer bleich geworden sind, lege ich mich erleichtert nieder. Auch Selbstgespräche können befreien. Das sanfte Rauschen in den hohen Tannenwipfeln hinter dem einsamen Haus ist mir ganz nahe und wiegt mich, gleich einem leisen Lied, in den Schlaf.

 

                                                                                  *

 

„Die Heidelbeeren sind reif“, jubelten Rainer und Florian. Trotz anderer Pläne entschied die Mutter: „Wir gehen schon heute pflücken, ehe es zu spät ist.“ Der große Heidelbeerplatz auf der Rainfelder Heide war im weiten Umkreis bekannt. Wenn die Pflücker in großen Gruppen kamen, wurde das Ernten mühsamer. „Ihr nehmt euren Trinkbecher mit“, sagte Barbara zu den Buben. „Wenn er voll ist, leert ihr ihn in meine Milchkanne aus.“ Nicht jeden Tag wurde die Kanne voll. Doch man konnte die trockenen Beeren gut zusammenkommen lassen, ohne dass sie verdarben. Dann war es eine große Steingutschüsselvoll und der Lohn für die mühselige Arbeit. „Mama, kochst du heute Kompott, von dem man so schöne blaue Zähne bekommt?“ plapperte der Kleine weiter. „Und morgen eine süße Suppe und vielleicht am Sonntag einen Kuchen“, ergänzte Rainer. Die Mutter aber bestimmte: „Wir dürfen jetzt nicht alles aufessen. Die Hälfte machen wir ein für den Winter. Da werden wir uns noch mehr freuen, mal ein Glas Heidelbeeren aufmachen zu können.“ Bald reiften Waldhimbeeren, Brombeeren und schwarze Wildkirschen.

  • (Die richtige Reifefolge: Juli: Wildkirschen, August: Heidelbeeren, Himbeeren, September: Brombeeren.)

Es schien, dass der Himmel in verschwenderischer Fülle einen Ausgleich zu der schmalen Kost auf Lebensmittelkarten schenkte. Apfel-, Birnen- und Zwetschenbäume auf dem gemieteten Grundstück hingen zum Brechen voll. Diese Früchte konnten gut zu Dörrobst verarbeitet werden. Die Mutter entschied: „Wir lassen uns vom Schreiner Trockenhorden machen und kommen ohne Zucker zu einem zusätzlichen Wintervorrat.“ In Säckchen wurde das Trockenobst auf dem luftigen Speicher aufgehängt. Dort hielt es sich gut und lange, sofern die Kinder nicht zu viel davon wegnaschten. „Wir brauchen`s im Winter“, tadelte die Mutter. „Jetzt könnt ihr frisches Obst essen.“ Doch heimlich hingen sie sich immer wieder die Säckchen ab und holten eine Hand voll heraus. Es schmeckte aber auch so zuckersüß, dass man die große Versuchung verstehen konnte. Die Kinder kannten kein Bonbon mehr oder gar ein Stückchen Schokolade. Süßigkeiten waren aus den Läden verschwunden und angeblich für die Truppenverpflegung requiriert.

 

                                                                       *

 

Inzwischen wurde das zweite Heu gemacht, das in dieser Gegend Grummet genannt wird. Barbara ging öfter zum Umwenden; es trocknete langsam in der schwachen Septembersonne. In den kühlen Nächten, in einer Höhenlage um 600 Meter, zog es wieder an. Zwar rechte man es abends zu kleinen Haufen zusammen, um den erreichten Trockengrad zu bewahren. Doch am nächsten Tag musste es wieder auseinander gestreut werden. Es war keine schwere Arbeit, denn der zweite Schnitt ergibt kaum die Hälfte des ersten. Dafür ist er viel zarter. Diese Arbeit verbreitete nicht die lebhafte Stimmung, die dem Heumachen im Juli eigen ist. Das Jahr senkte sich, und die Luft wurde frischer. Schon erschienen auf den gemähten Wiesen die ersten Blüten der lila Herbstzeitlosen. Auch Wiesenchampignons fand man mitunter schon. Außer Barbara holte sie keiner. Sie ergaben als herrliches, fleischähnliches Ragout zu den neuen Kartoffeln eine willkommene Abwechslung im Küchenzettel. Später wuchs in Wald und Heide eine gute Pilzernte. Außer dem Lehrer kannte sie keiner. Ihr Gedeihen war kaum jemals gestört worden, was den städtischen Pilzkennern zugute kam. Die Bauern blickten skeptisch drein, wenn die Städter mit gefüllten Körben nach Hause kamen. Kommentar: „Wir hätten nicht die Courage, so etwas zu essen, könnte ja etwas Giftiges dabei sein.“ Nachdem man lange genug beobachtet hatte, dass die Sammler die Pilz.Kost überlebten, versuchten es einige auch damit. „Ja nichts umkommen lassen, was die Natur umsonst hergibt,“ dachten sie sich,. Zuvor aber musste die Expertin Kolb das Heimgebrachte begutachten, Vorbereitung und Zubereitung erklären.

 

Bald begann die Kartoffelernte, und Barbara nahm ihre Buben mit zum Auflesen. Mit Drahtkörben wurden die Kartoffeln zu den Säcken getragen und ausgeleert. Dann rief Frau Wagner: „Auf zum Kaffeetrinken. Setzt euch auf die Säcke. Der Boden ist schon kalt.“ Der Malzkaffee war nicht mehr warm genug und bestand zur Hälfte aus Vollmilch, so dass er Fettaugen hatte. Dazu erschien aus dem Deckelkorb ein Laib frisches Brot, ein Butterweck und selbst gemachter Handkäse mit Kümmel. Hungrig waren alle, vor allem die Kinder. Weil sie so fleißig aufgelesen hatten, wurde das Butterbrot dick geschmiert, ein seltener Genuss. Außerdem versprach der Bauer, dass sie am nächsten Tag beim Verbrennen des Kartoffelkrautes helfen und Kartoffeln in der Glut braten durften. Meistens war die äußerste Schicht verkohlt. Aber wenn man sich hindurchgegessen hatte, genoss man das zarteste Kartoffelgericht, das denkbar war. Mit schwarz verschmiertem Mund und Händen, aber glücklich ging`s abends nach Hause.

 

Der Schneider des Ortes war der Sturmführer der SA, sozusagen der erste Vertreter der Partei. Ein weißes Emailschild mit schwarzer Schrift kündete es von der armseligen Fassade seines Häuschens. Früher hätte er als Flickschneider manchmal hungern müssen, wenn seine Frau nicht die Landwirtschaft ihrer Eltern übernommen und weiter geführt hätte. Als Parteimitglied und Konjunkturritter bekam er eine feste Schneiderarbeit, die einen  guten Verdienst abwarf. Für eine Uniformfabrik nähte er Rockkragen. Zum Wochenende aber stolzierte er in Uniform agitierend durchs Dorf. Er blühte auf im Stolz auf sein Amt und setzte sogar Bürgermeister und Gemeinderechner unter Druck.

  • (Sturmführer der SA alias Anton war Heinrich Seel, Vater des zweiten und letzten Mauloffer Nachkriegsbürgermeisters Wilhelm Seel. Als mein Vater einrücken musste,  drohte er meiner Mutter mit dem KZ, wenn sie nicht in die NS-Frauenschaft eintreten würde. Meine Mutter wurde umgehend Mitglied, wie alle anderen Frauen im Dorf auch.)

Dann gehörte noch der Ortsbauernführer zu den getreuen Vasallen des Regimes. Längst hatte er eine Reproduktion des Abendmahles von Leonardo da Vinci aus dem Rahmen genommen und durch ein koloriertes Hitlerbild ersetzt. Jeder, der sein bescheiden möbliertes Wohnzimmer betrat, sah es sofort, so augenfällig hing es an der breitesten Wand.

  • (Ortsbauernführer war zu jener Zeit Albert Ott  in „Schusters Hof“, Vater von Landwirt Erich, Gemeindearbeiter Erhard und Metzger Albert Ott Junior - alle früh und ehelos verstorben - sowie von Emmi, verheiratet Rühl, heute wohnhaft in Altweilnau. . Als nach der Nazizeit  seine Nachkommen einmal die verblasste Tapete erneuern lassen wollten, kam noch beim Ablösen der als Verstärkung benutzte „Völkische Beobachter“ überall zu Tage. Der Ortsbauernführer hatte die Aufgabe, zusammen mit einer anderen Amtsperson, sei es Bürgermeister oder Gemeinderechner oder Sa-Sturmführer, über korrekte Viehzählung und Lebensmittelabgaben der Bauern zu wachen. Natürlich gab es hinter mancher Wand aus Stroh ein verborgenes Kalb oder Schwein, das immer rasch gefüttert wurde, sobald sich der Ortsbauernführer aufmachte, zu zählen. Die Nachricht darüber verbreitete sich unglaublich schnell. Mein Amt war es, jedes Mal die Hühner möglichst vollzählig aus Hof und Hühnerpferch auf die Wiesen zu  treiben, so dass sie nicht dem Hof zugeordnet werden konnten. Mehr als 15 Hühner durfte ich nicht nennen, sonst hätten wir mehr Eier abliefern müssen und den Verwandten aus Frankfurt und Wiesbaden nichts mehr abgeben können. Außerdem gab es eine dünne Heraklit-Wand hinter zwei Schränken im Schlafzimmer, das meine Großmutter mit uns beiden Mädchen teilte. Dahinter befanden sich zwei bis drei Säcke mit Roggenmehl, ein Sack mit Weizenmehl und einer mit Zucker, alles streng geheim.)

 

Die meisten Bauern kümmerten sich wenig um die neue Zeit, die angebrochen schien. Über des Schneiders Gefasel vom tausendjährigen Reich grinsten sie sich eins: „Ein Spinner ist der Anton schon immer gewesen. Aber nun ist er total übergeschnappt.“

 

Als eines Tages ein angeschossenes Feindflugzeug über der Gegend abstürzte und Fallschirme überm Wald hingen, schrie er Kommandos erteilend durch die Dorfstraße: „Alle Männer zur Gefangennahme der Feinde sofort antreten.“ Der Philipp war mit einer Schubkarre voll Brot unterwegs zum Backhaus. Doch der Sturmführer befahl, das Brot auf der Stelle stehen zu lassen um seinem Befehl nachzukommen. Der Philipp brummte: „Du verrückter Hund, soll ich mein Brot für drei Wochen hier verkommen lassen?“ Dann schob er seelenruhig ab in Richtung Backhaus. Der Backofen war schon mit Reisig geheizt und fertig zum Einschieben des getriebenen Brotes. Wenn das Brot gegangen ist, muss es in den Ofen.

  • (Philipp war vermutlich Georg Bausch, der sich immer gegenüber dem Schneire-Heinrich = dem Sturmführer der SA durchsetzen konnte. Mindestens genauso bemerkenswert war das Verhalten des Bauern Otto Eist, der dem Befehl nicht nur Folge leistete, sondern den toten Fliegerpiloten mit den Füßen an seinen Lanz-Bulldog kettete und ihn wegschleifte, das Entsetzen der eingeschüchterten Mitbürger ob solchen Totenfrevels sogar noch auskostend. Dem Sinn nach soll er geschrien haben, so ergehe es eben den Feinden des Reiches. Meine Mutter behauptete später, niemand habe zu fragen gewagt, was Eist  mit dem Leichnam gemacht habe. Aber Eist habe immer große Hunde gehabt.)

Dem Wichtigtuer Anton hatte der Philipp gezeigt, dass das tägliche Brot für die Familie heiliger ist als ein Parteibefehl. Aber Zivilcourage gehörte in dieser Zeit schon zu einer solchen Reaktion. Viel später, als die amerikanischen Besetzer eingezogen waren, hatte der Schneider gerade noch Zeit zur Entfernung des Schildes, das seine stolze Funktion in der Partei anzeigte. Vier Nagellöcher im abgeblätterten Verputz der Hauswand ließen erahnen, dass Würde und Hoffnung eines politischen Karrieretreibers untergegangen waren. Auch an der kahlen Wohnzimmerwand des Bauernführers verriet nur noch die Rahmenspur auf der verblichenen Tapete, wo einst das Führerbild hing.

  • (O. Eist besaß die Dreistigkeit, sich den anrückenden Amerikanern als Anti-Nazi vorzustellen. Ihm wurde nicht nur geglaubt, man machte ihn zum Bürgermeister, der er allerdings nicht lange blieb.)

 

5. Fortsetzung

 

Wie man auch zu dem Glauben an die Vorsehung stehen mag, in diesem Fall schien sie strafend zu walten. Als der Zauber abgeklungen war, wurde der Dorfschneider, nach kurzer Inhaftierung wegen politischer Aktivität in der falschen Richtung, krank. Er war noch nicht fünfzig Jahre alt, als er starb. Sein ältester Sohn kehrte als Krüppel aus dem Krieg zurück. Er hatte ein Bein verloren und einen Durchschuss an der rechten Hand. Der Jüngste, beinahe noch ein Kind, kam gegen Ende des Krieges auf einer Flakstation um. Er war der erste Junge in der Gemeinde, der nicht mehr konfirmiert wurde und ohne priesterlichen Segen zu Grabe getragen worden war. Für seinen Vater war die anti-religiöse Einstellung der Partei allein Richtung gebend. Der Ortsbauernführer erkrankte an Magenkrebs und starb ebenfalls in den besten Jahren.

  • (Heinrich Seel starb „am Magen“, sein ältester Sohn Wilhelm verlor den rechten Arm und hatte den Durchschuss vermutlich in einem seiner Beine. Er wurde nach Otto Eist Bürgermeister. An Krebs erkrankte der Gemeinderechner, aber erst im höheren Alter. Der Ortsbauernführer wurde in den 60er Jahren vom Blitz erschlagen, seine neben ihm stehende Frau kam schwer verletzt davon, blieb taub und wurde im Alter noch blind dazu.)

 

Nach und nach hatte sich Barbara eine Kleintierzucht zugelegt. Als eine Henne die ersten Küken ausbrütete, wurden die Kinder zum ersten Mal mit dem Geheimnis des keimenden Lebens konfrontiert. Mama, komm schnell“, schrien sie eines Tages aufgeregt, „unter der Glucke guckt ein winziges Hühnchen raus.“ Die Mutter hob das Huhn hoch und zeigte den Kindern, dass noch ein Hühnchen da war, an dem noch die Eierschale hing. Mehrere Eier hatten ein Loch, aus dem ein kleiner Schnabel piepte. Bald waren alle Küken geschlüpft. Wenn gelegentlich ein Tierchen einging, gab es Tränen. „Wir müssen es im Garten begraben“, stellten sie traurig fest. „Blümchen und einen schönen Stein setzen wir drauf.“ So geschah es auch, wenn junge Häschen aus einem Wurf verloren gingen. Fleißig sammelten die Kinder jeden Tag Löwenzahn für die Hasenfamilie. Natürlich wurden die Jungtiere mehr als es gut tat gehätschelt. Hühnchen und Häschen gaben ein lebendes Spielzeug ab. Dabei zeigten sich die Hühner intelligenter als Hasen. Demzufolge erhielten sie gegenüber den Hasen auch Namen. Sie fraßen zahm aus der Hand, ließen sich streicheln und tragen. Als Rainer am Küchenfenster seinen Futterruf vernehmen ließ, flog sein Lieblingshuhn Liesel zur Küche herein. Dieses ungewöhnliche, anerzogene Verhalten stellte sich bald als falsch heraus. Die Tiere verloren den natürlichen Instinkt für die Bedrohung durch Greifvögel und Füchse, die es noch zahlreich gab. Immer häufiger kam ein Huhn von dem Auslauf in den Wiesen nicht mehr auf den Hof zurück. Manchmal fanden sich nur noch einige Federn beim Suchen. Dann versprachen die Kinder: „In Zukunft passen wir immer auf die Hühner acht, damit Fuchs und Habicht sie nicht mehr stehlen.“

 

Einmal aber konnte ein verletztes Huhn gerettet werden, indem sich Barbara als Chirurg versuchte. Das arme Tier saß mit aufgeschlitzter Bauchhaut teilnahmslos in einer Hof-Ecke. Die Frau untersuchte es und stellte fest, dass die inneren Organe unverletzt in der Bauchhöhle lagen. „Wir müssen es operieren“, erklärte sie den Kindern. Diese waren sehr aufgeregt. Der kleine Florian sagte weinerlich: „Das will ich nicht sehen, es tut mir so leid.“ „Soll unser Huhn sterben?“ fragte die Mutter, und beide Kinder schüttelten den Kopf. Kurz entschlossen holte sie Nadel, Zwirn, Fingerhut und Schere und nähte die Wunde zu, wobei die Kinder tapfer assistierten. „Das war mal ein aufregender Tag“, stellten sie anschließend fest. Das kranke Huhn wurde vor dem Hühnerstall auf frisches Heu gesetzt und erhielt in Wasser aufgeweichtes Brot. Es trank sofort von dem Wasser. Aber der vorher so frisch rote Kamm war sehr grau. Drei Tage vergingen, bis das Tier beim morgendlichen Futterruf wieder mit der Hühnerschar die Treppe herunterflog und sich, eifrig Körner pickend, unters Hühnervolk mischte. Bald lief es wieder scharrend über die Waldwiese. Der Eingriff war geglückt.

 

                                                                       *

 

Der Sonntag ist ein Ruhetag. So haben es die Rainfelder Bauern seit jeher gehalten. An einem späten Sonntagnachmittag ging der Fritz Keil wieder mit seinem neuen Fernglas, zu dem er durch Kompensieren gegen einen Schinken gekommen war, an den Äckern entlang spazieren. Das Getreide hatte gut überwintert. Am Waldrand saß noch das Buchenholz, das aufgerissen werden musste. In der Nähe hatten die Sauen gewühlt. Fritz wusste, warum er das Glas mitnahm. In der Dämmerung äsen die Rehe auf der Waldwiese und der Dachs verlässt seinen Bau. Man kann so Manches beobachten. Was ereignet sich sonst schon in der kleinen Gemeinde! An diesem Sonntagabend aber passierte endlich mal etwas, was den Dorfklatsch anfachte. Als der Fritz sein Glas in einer bestimmten Richtung ansetzte, sprangen von hinten ein paar Kerle aus dem Gebüsch, zogen ihm einen Sack über und schlugen mit Knüppeln auf den erschrockenen Mann ein. Wie ein Spuk waren sie verschwunden, als sich der schwer Angeschlagene aufrappelte. Er befühlte Kopf und Knochen, las das kaputte Glas auf und schleppte sich mühsam nach Hause. Seine Frau rannte sofort ans Telefon auf dem Bürgermeisteramt und bestellte den Krankenwagen in der Kreisstadt. Nun wussten es alle und diskutierten über die Lumperei, einen braven Bauern zusammenzuschlagen. Der gutmütige Fritz tat doch keiner Fliege etwas zu Leide.

 

Auf die polizeiliche Anzeige hin erschien ein Beamter im Krankenhaus, wo der Bauer seit Tagen lag. Der Vorgang wurde protokolliert. Ein tüchtiger Polizist überdenkt zunächst das Motiv. So frug er denn, ob ein Verdacht bestehe, die Männer jung oder älter gewesen und welche Worte gefallen seien. Ja, da war ein komischer Satz gefallen: „Das ist für die Spannerei, du Lump!“ Und mit Sicherheit hatten das junge Leute aus dem Dorf gesagt. Der Landpolizist pfiff durch die Zähne: „Haben Sie vielleicht Pärchen beobachtet?“ fragte er. Der Fritz sagte freimütig: „Außer dem Wild habe ich auch schon mal knutschende junge Leute vors Glas bekommen. Das ist doch ein harmloser Spaß.“ Der Polizist klärte ihn auf: “Sie sollten sich schämen, deswegen so unbefangen zu tun. Ein normaler Mann tut so etwas nicht, zumal wenn er verheiratet, nicht mehr ganz jung ist und einen erwachsenen Sohn hat. Aus dieser Sicht ist die anonyme Justiz der Burschen beinahe zu verstehen. Haben Sie es als junger Mann gern gehabt, wenn Sie beim trauten Zusammensein mit ihrem Mädchen beobachtet wurden?“ Traurig schüttelte der Fritz den Kopf, wobei er wegen eines plötzlichen Stiches im Gehirn das Gesicht schmerzlich verzog: „Ich und mein Lieschen sind ungefragt füreinander bestimmt worden. Es war wie ein Kuhhandel. Gefallen hätte mir eine andere besser. Aber sie hat mir eine schöne Sach eingebracht und arbeiten konnte sie wie ein Ross. Von Liebe war keine Rede“, so vertraute sich Fritz dem Polizisten an. „Und wenn einer in Bezug auf Liebe zu kurz gekommen ist, kann sich das Vergnügen am Zuschauen entwickeln,“ erfuhr der doppelt geschlagene Mann durch den Vertreter des Gesetzes. Der Beamte verstand die verschämte, inständige Bitte, ja dem Lieschen nicht zu erklären, was ein Spanner ist. „Was das betrifft, so bin ich kuriert“, versprach der Fritz, „wenn nur die Folgen der schweren Tracht Prügel, die ich bezogen habe, schon wieder verheilt wären. Schade um das teure Fernglas, es war so schön scharf.“ Dann bat er, im Protokoll schriftlich festzulegen, dass der Geschädigte ausdrücklich auf die strafrechtliche Verfolgung der Übeltäter verzichtete.

  • (Fritz Keil, der Spanner, war vermutlich Gustav Ott, der Vermieter von Frau Berlinger, alias Karl Wagner. Er zumindest wurde öfters dabei ertappt, wie er an Samstag Abenden vor den notdürftig verhängten Fenstern der Küchen, Waschküchen und seltenen Badezimmer auftauchte, wenn eben Badetag war, und das noch lange nach Kriegsende. Die Abreibung hatte also nichts genutzt.)

 

                                                                       *

 

Die Bürgermeisterei war der Treffpunkt aller Dorfbewohner. Auch Barbara hatte da öfter zu tun, Post und Zeitung abzuholen, Lebensmittelkarten und Bezugsscheine, und all das zu erledigen, was man normalerweise auf der Post zu tun hat. Im Postzimmer befand sich auch der einzige Telefonanschluss der Gemeinde.

  • (Wenn man in der Küche des Bürgermeisters das Ohr an die Wand legte, konnte man jedes Wort der Telefonierenden verstehen. So war der Bürgermeister über wichtige Telefonate immer gut informiert.)

Als Amtsperson war der Bürgermeister gehalten, die Vorschriften der Nazi-Regierung zu befolgen. Er tat es sparsam und widerwillig. Kam einer mit dem Hitlergruß ins Haus, wurde ihm Bescheid gegeben. Ansonsten aber brummte das vernünftige Dorfoberhaupt sein „Morje“ oder „Tag“. Barbara hatte gerne mit diesem klugen Mann zu tun, und so schrieb sie in ihr Tagebuch über ihn:

 

Mai 1943

Als ich auf der Post zu tun hatte, frug mich der Bürgermeister beiläufig: „Haben Sie gelegentlich mal ein Buch für mich zum Lesen?“

 

6. Fortsetzung

 

Bei einem Amtsgang  hatte er in meinem großen Wohnzimmer wohl den gut bestückten Bücherschrank gesehen. „Suchen Sie sich am Sonntagnachmittag etwas bei mir aus“, schlug ich vor. Heute war er bei mir, bis er gegen Abend zum Füttern nach Hause musste.

 

Mein Bücherschrank ist übersichtlich eingeräumt. Darunter gibt es eine Menge Taschenbücher verschiedener Themen, die ich mir laufend dazu gekauft habe. Die Klassiker mit den schönen Einbänden, rotem Lederrücken und verblichener Goldschrift werden in dieser unruhigen Zeit kaum in die Hand genommen. Sie führen, ebenso wie Sprachbücher, ein ungestörtes Dasein in der hintersten Schrankecke. Ich habe dem Bürgermeister alles gezeigt. „Wie glücklich wäre ich mit einem solchen Schatz“, sprach er mit glänzenden Augen. Ich forderte den Jakob Winter auf: „Suchen Sie sich etwas aus, sooft Sie wollen. Sie müssen mir nur sagen, welche Lektüre Sie bevorzugen.“ „Vom Thema her interessieren mich geschichtliche Romane, Reisebeschreibungen, Berichte über Forschungsreisen,“ antwortete er. Ich suchte ihm Einiges zur Wahl aus. Den sonst so ruhigen, zurückhaltenden Mann  mit dem bescheidenen Auftreten sah ich plötzlich mit anderen Augen. Der kräftige Sechziger im schon gelichteten blonden Haar mit dem frischen Gesicht der Landleute, dem ungepflegten Schnauzbart, den schwermütig blickenden hellblauen Augen hatte einen Charakterkopf. Zum Sonntag trug er ein blitzsauberes Oberhemd unter der Trachtenjacke und blank geputzte Sportschuhe unter der Bundhose. Ein passabel aussehender Mann. Ich sehe das mit einem Blick, ohne die ganze Erscheinung zu mustern. Mein Mann hat mich oft wegen dieser Eigenschaft gefoppt. Für mich hatte dieser Mann heute aber auch eine Ausstrahlung von Würde. Ich fühl-te die natürliche Intelligenz, den klaren Verstand, die Auffassungsgabe, Dinge, die existieren ohne höhere Schulbildung, Studium, angelesene Weisheiten aus einem Bücherschrank. Außer ihm gibt es keinen in der Gemeinde, der ein solch souveränes Urteilsvermögen hat. Heute taute er in unserer langen Unterhaltung spürbar auf. Offensichtlich war er beglückt, einmal ein Gespräch auf anderer Art als der ortsüblichen führen zu können. Unvermittelt sagte er plötzlich: „ Ich habe Ihnen etwas abzubitten. Vor dem Einzug habe ich den Karl gewarnt, ja keine Leute ins Dorf zu bringen, mit welchen wir Schwierigkeiten bekommen könnten im Sinne einer Belastung für die Gemeinde. Ich bin kein Mensch der Komplimente“, fuhr er fort, „aber mit Ihnen hat der Wagner Glück gehabt und wir von der Verwaltung auch. Sie arbeiten wie eine Bauersfrau.“ Dann sah er meine Schreibmaschine auf dem Rollschränkchen stehen und deutete an: „Wenn Sie gelegentlich etwas für die Gemeinde schreiben könnten, wäre ich dankbar. Es gibt keine Schreibmaschine im Ort und auch niemand, der sie bedienen kann.“ Noch einige Anliegen wurden vorgetragen. Es fehlte eine geeignete Person für die Erste Hilfe bei kleinen Unfällen (die Gemeinde würde die Ausbildung beim Doktor bezahlen), eine Assistentin beim Impfen der Schulkinder und jemand für die Übernahme der Milchverteilung von der Molkerei. Denn die ersten Flüchtlinge waren eingetroffen. Ich habe die Hände gerungen: „Wo ich ohnedies kaum alles schaffe.“ Aber ich habe dem braven Mann jede mögliche Hilfe versprochen, weil es mich reizte, in der Gemeinde nützlich zu sein. Doch bei mir denke ich, dass es etwas leichtsinnig geschah. Wie ausgefüllt sind meine Tage bisher schon gewesen! Und nun noch mehr dazu! Aber ich bin jung, gesund und voll Arbeitskraft.

  • (Ob Frau Berlinger diese Aufgaben alle auf Dauer übernahm, kann ich nicht mehr sagen. Sicher ist, dass gegen Kriegsende „das Mariechen“, ein ehemals bei Familie Otto Seel tätiges Landjahrmädchen, als ausgebildete Krankenschwester meine Stirnwunde klammerte, die nicht aufhören wollte zu bluten. Sie war auch in meinen ersten Schuljahren beim Impfen dabei.)

An dem heutigen Sonntag fühlte ich mich selten angeregt durch den Besuch des Bürgermeisters. Man muss vorsichtig mit Kollektivurteilen sein. Auch in dem verlassensten Dorf sind nicht alle Menschen über einen Kamm geschoren.

 

Die Sonne ging als feuriger Ball hinter dem Hochwald unter. Ich nahm meine Buben an die Hand, und wir gingen bergauf in den Wald hinein. Dann bogen wir in einen Seitenweg ein, der aus dem Wald zur Heide führte. Hier war es noch heller. Wir sprangen noch ein Stück zusammen um die Wette, wobei sich herausstellte, dass wir alle drei gleich schnell waren. Im Abendfrieden lag das Dorf vor uns, eingebettet in das stille Tal. Es wäre ein lohnendes Motiv für einen Maler gewesen. Aus einigen Schornsteinen kringelte noch grauer Rauch vom Küchenherd. In den Baumgärten leuchteten die Kirschbäume. Beim Näherkommen entdeckten wir die schon in Bündeln blühenden Birnbäume. Auch die knorrigen Apfelbäume zeigten im Schutz der kaum entwickelten Blätter schon die rosigen Knospenrosetten. 

 

                                                                      *

 

Wie schön ist es hier zu dieser Stunde und Jahreszeit! Ich fühle mich erhoben über die Beschwernisse des Alltags in einem zerstörenden, mordenden Krieg. Dank sei Gott, dass ich mit meinen geliebten Kindern in dieser Landschaft eine Überlebenschance gefunden habe. Wieder denke ich an meinen Mann, den liebevollen Vater unserer Kinder, und fühle in der besonderen Atmosphäre dieses Frühlingsabends keine Bitterkeit über Disharmonien in unserer Ehe. Zu der Bewährung muss ich mich mehr in Toleranz bemühen, in meinen Erwartungen und der Selbstbehauptung zurückstecken.

 

Letzte Schwalben jagen noch um die Kuhställe, als wir ins Dorf zurückkommen. Fledermäuse flattern schwerfällig dicht über unsere Köpfe. In der Ferne schreit ein Kauz. Im Haus lesen wir noch ein paar Seiten aus dem großen Wilhelm-Busch-Album. Dieses Mal war „Hans Huckebein, der Unglücksrabe“ dran. Ein Sonntag ist zu Ende. In den nächsten Tagen muss ich diesem Selbstgespräch noch etwas anfügen.

 

Nun ist diese Woche doch umgegangen, ohne meine Aufzeichnungen fortzusetzen. Abends lähmte die körperliche Müdigkeit jedes Vorhaben.                                                                                                                                     *

 

Rüben- und Gemüsepflanzen setzen ist eine anstrengende Arbeit, bis ein großer Acker komplett ist. Barbara erhielt eine Rüge von Karls Schwiegermutter, indirekt, um sie nicht zu vergraulen. „Einer steckt hier die Herzchen zu tief, das gibt verkrüppeltes Gemüse“, sagte sie so laut, dass jeder in der kleinen Gruppe es hören konnte. Barbara dachte: „Die nehmen an, dass ich beim ersten Mal alles richtig machen muss, was sie ein Leben lang getan haben.“ Sie passte auf und bemühte sich. Einen Tag stand sie auch bei dem Bürgermeister auf dem Setzacker. Malchen, dessen Frau, hatte darum gebeten. „Ich mach’s wieder gut“, sagte sie Barbara ins Ohr, denn ihr Mann sollte es nicht hören. Sie gab und nahm gern. Ständig hatte sie kleine Anliegen: Zwei Löffel Grieß, damit die Klöße besser halten, zwei Päckchen Puddingpulver usw., was Selbstversorger nicht kaufen konnten. Obwohl die Gruppe Normalverbraucher, in welche die Stadtfamilie gehörte, nichts übrig hatte, gelang das Neinsagen nicht. Und es wurde prompt belohnt, wenn Frau Winter auf flinken O-Beinchen, die der lange Rock nur teilweise verbarg, schnell ins Haus schlüpfte, plötzlich ohne anzuklopfen in der Küche stand und unter der großen Schürze ein Säckchen Körnerfutter hervorholte. „Nehmt’s und sagt nix“, flüsterte sie und zu Rainer gewandt: „Hör zu, Bub, heute abend um sechs, wenn die Männer im Stall sind und es Nacht geläutet hat, gehst du auf unser Herzhäuschen im Hof. Da steht noch ein Säckchen Hafer für euch. Bummel nicht damit rum, bring’s schnell deiner Mamme, braucht ja keiner zu wissen.“ Ja, der Rainer war schon manchmal eine Stütze. Er hat begriffen, wie es geht in dieser Notzeit, wo eine Hand die andere wäscht. Doch Barbara fühlte sich nicht wohl bei den kleinen Heimlichkeiten hinter dem Rücken des Bürgermeisters.

  • (Vielleicht ist auf einem solchen Weg auch der sagenhafte Blumenkohl verschwunden, der noch auf unserem Acker stand, als meine Großmutter eines Abends vom Feld nach Hause ging. Nach ihr machte sich nur noch Lina, die Frau des Bürgermeisters, auf den Heimweg. Und am nächsten Morgen war der wunderschöne Blumenkohl spurlos verschwunden. Meine Großmutter fand durch Nachforschungen nur heraus, dass er nicht im Kochtopf des Bürgermeister-Haushalts gelandet war und wunderte sich Jahre lang, wo er geblieben sein könnte.)

Das Malchen gehörte zu den Bauersfrauen, die nach Ansicht der Geizigen die Sache nicht genug zusammenhielt. Sie schwätzte auch gern ein bisschen, statt immer wie eine Kuh im Joch zu gehen. Das gab ihr die Ausstrahlung einer freundlichen Heiterkeit. Obwohl ihr Haar grau und das rotbackige Gesicht faltig war, hatten die schwarzen Augen das Feuer eines jungen Mädchens.

  • (Die Affären der L. B. waren Gegenstand des Dorftratsches und wurden teilweise von den Schulbuben des Dorfes beobachtet. Sie nahm es nicht genau mit Tugenden wie Treue und Ehrlichkeit.)

 

7. Fortsetzung

 

Sie ist des Bürgermeisters zweite Frau. Seine erste starb früh und ließ ihn allein mit zwei Söhnen. Friedrich, der Älteste, war schon einmal in einer psychiatrischen Klinik. Er ist ein bulliger Kerl, der kraftvoll die Schwerarbeit macht, aber im Kopf etwas schwerfällig ist. Bei seiner sturen Interesselosigkeit ist reichliches Essen geradezu sein Hobby. Die Stiefmutter braucht große Kochtöpfe. Theo, der jüngere Sohn, ist auch ein armer Teufel. Er hat einen Sprachfehler und hört schlecht, obwohl er durchschnittlich intelligent ist. Seitdem er das Pech hatte, durch einen Unfall beim Holzfällen einen steifen Arm zurückzubehalten, kann er nur im Rahmen seiner großen Arbeitswilligkeit Geringes helfen. (Es handelt sich bei „Friedrich“ um Otto Bachon, der in der Grundausbildung des Militärdienstes so kaputt gemacht wurde, dass sein Vater ihn im Handwagen von der Bahnstation in Usingen abholen musste. Er soll in den ersten Monaten danach immer nur gesagt haben: „Eins, zwei, eins, zwei ...“  oder “Eins, eins, eins, ...“ Sein jüngerer Bruder, hier „Theo“,  war Adolf Bachon, dem der umstürzende Baum nicht nur den Arm nahm, sondern auch noch das Gehör beschädigte. Danach verschlechterte sich seine Aussprache zusehends. Er war nicht mehr schulpflichtig, konnte daher auch nicht in eine Taubstummenschule gehen, Camberg war auch zu weit entfernt für die damaligen Verhältnisse.) „Inzucht“, flüsterte die Stiefmutter Barbara zu. „Betrachten Sie meine Vera, das Kind, das ich dem Bürgermeister geboren habe, dann sehen Sie den Unterschied. Und meine Tochter aus der ersten Ehe, ich war doch Kriegerswitwe, als mich der Winter hierher holte, ist auch ganz in Ordnung.“ Barbara bestätigte: „Die Vera ist ein bildhübsches Mädchen, die Schönste weit und breit und klug dazu, das stimmt.“ Leider musste sie hören, dass die Bürgermeisterstochter einen geschiedenen Fünfziger heiraten muss, von dem sie ein Kind erwartet. Ein Bahnbeamter aus der Kreisstadt ist’s, und versorgt ist sie wenigstens.

  • (Die mit in die Ehe gebrachte Tochter war Erna. Vera war Dorothea , verheiratet Haub. Deren Mann habe angeblich wegen Unregelmäßigkeiten den Dienst bei der Bahn quittieren müssen. Jedenfalls arbeitete er danach als Schreiner. Die beiden hatten zusammen fünf Kinder, der Älteste ist Wolfgang Haub, er ist jetzt während ich schreibe Ortsvorsteher von Mauloff. Aus der Ehe von „Malchen“ mit dem Bürgermeister kamen noch Ewald und Paula Bachon.)

 

                                                                       *

 

Im hintersten Taunus hat sich ein alter Pfingstbrauch erhalten. Die Kinder feiern am zweiten Feiertag „Laubmännchen“. Dieses ist ein von allen Kindern gewählter Bub, der, in frischem Buchenlaub versteckt, auf einem Leiterwägelchen von der Kinderschar durchs Dorf gefahren wird, wobei er immerzu „Kuckuck“ rufen muss. In diesem Jahr war Rainer der Kuckuck. Vor jedem Haus sangen die Kinder ein sonst unbekanntes, auf den Brauch bezogenes Lied, dessen Refrain endete: „Eier, Speck und Brot heraus, der Korb ist noch nicht voll.“ Jeder gab den Mädchen etwas in die Körbe. Auch Geld für Limonadenkauf im Gasthaus war willkommen. Dann zogen sie gemeinsam auf die Heide und ließen das Laubmännchen herausschlüpfen. Kunstgerecht machten die großen Buben eine Feuerstelle. Die älteren Mädchen schnitten den Speck in die mitgebrachten Pfannen und schlugen die Eier darüber. Jedes Kind bekam seine Portion, und immer reichte es zum Sattessen.

Bevorzugt wurde das Laubmännchen bedient. Zufrieden, aber nicht mehr ganz proper, kehrten sie gegen Abend von ihrem Pfingstspaß nach Hause zurück.

  • (Die Kinder sangen vor den Häusern verschiedene in der Schule gelernte Frühlings- oder Wanderlieder. Nach drei bis vier Strophen kam dann ein Spruch, der lauthals gebrüllt wurde und wohl teilweise aus dem Dreikönigssingen in katholischen Gegenden abgehört war oder sich seit vorreformatorischer Zeit erhalten hatte: „Ich bin ein armer König, gebt mir nicht zu wenig! Lasst mich nicht zu lange stehn, denn ich muss noch weitergehn. Eier raus, Speck heraus, Geld heraus, Brot heraus, der Korb ist noch nicht voll!“ Erwachsene hatten zu dem Fest keinen Zutritt, es wurde sogar den eben konfirmierten Kindern deutlich gemacht, die sonst so Kleinen könnten alle Schwierigkeiten alleine meistern. Und so war es auch!)

 

                                                                       *     

 

Im Dorf existierte auch ein Lebensmittelgeschäft. „Kolonialwaren“ stand verheißend auf einem stark angerosteten Schild. Der Verkaufsraum war gerade so groß, dass einer hinter der Theke und zwei davor Platz fanden. Kam ein Dritter dazu, was selten vorkam, musste die Tür offen bleiben. Stunden oder Tage lang verlief sich manchmal keiner in Settes Geschäft. Dafür war es immer offen, von früh bis in die Nacht und auch am Sonntag; es sei denn, die Familie wäre bei der Feldarbeit gewesen. Die Inhaberin war eine Krämerseele in des Wortes voller Bedeutung. Das Wiegen auf der alten Balkenwaage mit den verbeulten Messingschalen glich einem Zeremoniell. Sie füllte so wenig in die Spitztüte, dass sie durch Antippen mit dem Finger und etwas Nachfüllen langsam in die Nähe des Kaufgewichtes kam. Dann folgte flink ein mehr symbolisches als echtes Nachfüllen, ein letztes kräftiges Tippen, verbunden mit dem raschen Herunterreißen der Tüte. Das spielte sich derart plump ab, dass Barbara sich veranlasst sah, zu Hause die Probe auf’s Exempel zu machen. Stets fehlten einige Gramm. Es machte nichts aus bei Salz, Graupen oder Haferflocken. Aber bei den nur auf Lebensmittelkarten erhältlichen knappen Waren, wie Butter, Zucker, Teigwaren, summierten sich die Fehlgewichte spürbar. Wenn es pro Kopf im Monat 50 g Butter gab, war es empörend, davon 10 g einzubüßen. Die Kinder der Normalverbraucher erhielten ab und zu ein Päckchen Kakao oder Nährmehl zugeteilt. Als Barbara im Amtsblatt gelesen hatte, dass jedes Kind 150 g Kakao erhalten sollte, freuten sich die Buben schon riesig auf den seltenen Genuss. Die Mutter reichte die Kinderkarte hin und sagte hoffnungsvoll: „Ich hätte gern die zwei Portionen Kakao.“ Die Sette setzte ihre Nickelbrille auf die spitze Nase des Mausgesichtes, schnipselte die Märkchen ab und steckte sie in die Schublade, die als Kasse diente. „In drei Wochen können Sie danach fragen“, murmelte sie beiläufig. Befremdet erklärte die junge Frau: „Sie dürfen meinen Karten nur etwas entnehmen gegen sofortige Hergabe der Ware.“ „Ich habe keinen Kakao da“, lautete die schnippische Antwort. Beim Nachfragen nach drei Wochen saß die Familie gerade am Küchentisch beim Frühstück. In den Tassen entdeckte Barbara tatsächlich Kakao. Auf die Frage, ob sie die Kinderzuteilung jetzt haben könne, gab die Sette den Bescheid: „Nein, ich habe noch kein Kontingent, Ihre Märkchen haben zum Antrag auf Zuteilung gedient. Abgeben kann ich erst nach der nächsten Lieferung.“ Diese war ein Vierteljahr später. Barbara dachte schockiert: „Da sitzen sie nun und trinken kaltblütig die Sonderzuteilung für meine Kinder, betrügen sie um ihr Recht und belügen mich schamlos.“ Verbittert sagte sie nur: „Das ist unkorrekt und strafbar, denken Sie bei nächster Gelegenheit daran.“ Die raffinierte Person spielte die Gekränkte und wurde dramatisch: „Ich beteuere, dass ich mein Geschäft seit Jahren korrekt führe und verstehe. Gegen Kritik von Leuten, die keine Ahnung haben, weil sie zu jung und unerfahren sind, werde ich mich zu wehren wissen.“ Barbara schluckte auch noch die Frechheit, ihr Unkenntnis zu unterstellen, konnte sich aber nicht die Frage verkneifen: „Hoffentlich hat der Kakao Ihnen gut geschmeckt.“ Trotz dieser trüben Erfahrung kaufte die junge Frau weiter das Wenige, das es gab, im Dorfladen. Da war keine Wahl, es sei denn, sie wäre wegen ein paar Kleinigkeiten eine Stunde weit ins nächste Dorf gelaufen, um letzten Endes ähnliche Erfahrungen zu machen. Und da war immer noch die Rücksichtnahme auf die bäuerliche Gemeinschaft im Ort, die immer dann funktionierte, wenn ein Fremder eindrang. (Sette = Greta Steinmetz, gebürtig aus dem Rheinland, verheiratet mit Rudolf Steinmetz, mit dem sie einen Sohn hatte, der im Krieg fiel und eine Tochter, Hildegard, in Finsternthal verheiratet als Wissig, die später im Alter ihre Eltern zu sich nahm.)

 

                                                                       *

 

Zu Barbaras Arbeiten gehörte die Hilfe beim Brotbacken. In den kleinen Dörfern des hinteren Taunus lohnten sich keine Bäckerläden. Jede Familie backte selbst im Gemeindebackofen. Alle zwei bis drei Wochen wurde am Abend der Sauerteig in einer großen hölzernen Backmulde angesetzt. Diese musste an einem warmen Platz stehen. Das konnte die Küche, das Wohnzimmer oder auch der Kuhstall sein. Am nächsten Morgen machte die Hausfrau den Teig fertig. Er wurde in runde Weidenkörbchen gelegt, ausgeschlagen mit feuchten Leinentüchlein.

  • (Falsch: Es waren Strohkörbchen! Nur wenn mehr Teig da war als Strohkörbchen, sah man sich nach ähnlich großen anderen Körbchen oder Schüsseln um und legte diese wie die Strohkörbchen mit trockenen, bemehlten Tüchern aus.)

Die Körbchen kamen zum Transport auf ein entsprechend ausgeschnittenes Holzgestell, das 15 bis 20 Körbchen aufnahm und auf die große Schubkarre passte. Das Anheizen des Steinbackofens blieb den Männern vorbehalten. Ein großes Reisigbündel wurde im Backofen verbrannt und die Reste ausgekehrt.

  • (Falsch: Zum Anheizen des Backofens waren mindestens drei Wellen nötig, wenn die Hitze für einen vollen Backofen reichen sollte. Wenn im Winter manchmal der Backofen ausgekühlt war, weil zwei bis drei Tage lang niemand gebacken hatte, mussten es fünf bis sechs Wellen sein, je nach Außentemperatur. Für das Gelingen des Backens waren entscheidend: Ein schmackhafter Heberling, ausreichendes Gehen des Ansatzes, des Sauerteiges und der Brotlaibe, die richtige Regelung der Luftzufuhr während des Abbrennens und beim Backen sowie die richtige Holzmenge und die Dauer des Backvorgangs.)

Einmal rief Karls Frau zur Haustür herein: „Frau Kolb, fahren Sie das Brot ins Backhaus, der Ofen ist gerade recht zum Einschießen. Ich mache inzwischen noch die Kuchen.“ Barbara lief gleich mit zu Wagners Haus, hub die Schubkarre an und dachte: „Ob ich das schaffe? Es ist ein ungewohnter Kraftakt.“

 

8. Fortsetzung

 

Einmal in der Balance, lief die Karre wie von selbst, denn die Dorfstraße hatte ein leichtes Gefälle. Da sie nicht sah, was vor den Füßen lag, stolperte Barbara plötzlich über etwas, das auf dem Wege lag, die Karre schwankte bedenklich und wäre beinahe umgekippt. Ein Schreck durchfuhr die Frau; sie musste absetzen und sich am Weg auf ein Mäuerchen setzen. Daneben plätscherte der Born in einen großen eisernen Trog, wo gerade ein Bauer die Kühe tränkte. Ein Tier ging auf Barbara zu, stupste sie mit dem nassen Maul an und leckte ihre Hand mit der rauen Zunge. Sie sprang auf.

 

„Ist doch ein bisschen schwer für eine zarte Stadtfrau“, rief der Wagner ihr zu, der gerade dazu kam, um die Brote einzuschießen. „Och, es geht schon“, antwortete Barbara, „ich bin nur überein Scheit Holz gestolpert, das einer verloren hat. Nicht auszudenken, wenn ich Ihr Brot für drei Wochen umgekippt hätte. Dann hätten Sie mich ungeschickte Person wohl aus dem Dorf gesteinigt.“ „Frau Kolb“, sagte da der Karl, „Sie helfen so viel und manches ist schwer und ungewohnt. Da kann schon mal eine Panne passieren. Wir sind doch keine Unmenschen.“

 

Der zweifelhafte Kavalier überließ der Frau die Fortsetzung der Fuhre, die diese in Angst und Schweiß glücklich bis ins Backhaus brachte. „Diese Tour gedenkt mir“, sagte Barbara zu Minchen, die gerade anmarschiert kam, unter jedem Arm ein großes Kuchenblech mit Quark belegt, „sie wird in meine zukünftigen Alpträume eingehen.“ Dann begann die Backerei. Körbchen um Körbchen wurde auf die Schießstange gekippt,  Körbchen und Tüchlein zur Seite gelegt und das Brot mit Wasser bepinselt, damit es Glanz bekam und gegen die Oberhitze geschützt wurde. Das Absetzen vom Schießer auf die heiße Steinplatte erforderte Übung, wie auch die Backzeit von etwa zwei Stunden. Dann war der Ofen noch heiß genug, um Blechkuchen zu backen  und nach diesem gelang noch Kleingebäck, das schwache Hitze braucht. Für die Hilfe beim Brotbacken bekam Barbara stets einen Teigklumpen geschenkt, der für ein extra großes Kuchenblech reichte. „Drauflegen müssen Sie sich selbst etwas“, sagte dann die Bauersfrau. Je nach Jahreszeit waren es Äpfel, Heidelbeeren oder Quark. „Hurra“, jubelten dann Rainer und Florian, „es gibt frischen Brotkuchen.“ Ofenfrisch und kaum erkaltet, aß jeder im Dorf das etwas herb schmeckende knusprige Gebäck aus Roggenteig gern. Es half den Bauern über die Lücke, bis das frische Brot nach zwei Tagen angeschnitten werden konnte. Die Sauerteigbrote mit der fest ausgebackenen Kruste und dem mehligen Unterboden hielten sich lange frisch. Am Besten schmeckten sie in der ersten Woche, in der zweiten hielt ein Laib schon länger, und danach wollte es kein Ende nehmen. Aber es wurde erst wieder gebacken, wenn alles aufgegessen war. Der harte Rest ergab noch Brotsuppen und in der Pfanne in Schmalz gebackene Brotschnitten.

  • (Dazu wurde das Brot in eine Eiermilch getaucht, nach dem beidseitigen Abbacken gezuckert und mit eingemachtem Obst serviert. Man nannte dieses Gericht „Bellmänner“ = Bettelleute.)

Aber für das Vieh war das tägliche Brot tabu. Im zugigen Keller (oder in der gut gelüfteten Speisekammer) hielten sich die großen runden Vierpfünder relativ lange frisch. (Die Laibe mussten allerdings langsam auskühlen, sonst entstand zwischen Teig und Kruste ein tiefer Riss.)

 

                                                           *

 

Wann immer es die Zeit erlaubte, holte Barbara im Wald mit ihren Kindern dürres Holz, um das Buchenscheitholz für den Winter zu sparen. Sie erhielt es, wie die Bauern, kostenlos von der Gemeinde zugeteilt, denn einerseits war das Dorf reich an Wald, andererseits wollte man der beliebten Stadtfamilie gefällig sein. Einmal, als sie wieder dürres Holz auflas und die Buben dabei einen Heidenlärm machten, rief eine drohende Männerstimme: „Was gibt’s denn da für einen Unfug?“ Durch das niedrige Unterholz vor dem Hochwald sah man die grüne Försteruniform. „Im Gemeindewald könnt ihr machen, was ihr wollt, aber nicht im Staatswald. Wer seid ihr denn eigentlich?“ frug er die Buben. „Mama, Mama“, riefen die Kleinen, „komm schnell.“ Barbara kam näher, entschuldigte sich für das Toben der Kinder und für ihre Unkenntnis der Grenze zwischen Gemeinde- und Staatswald. Der Förster lachte sie an: „Halb so schlimm. Aber die Kinder müssen lernen, dass grünes Holz nicht beschädigt werden darf. Dafür ist der Förster da.“ „Aber wer sind Sie denn eigentlich“, fuhr er mit einem freundlichen Blick zu den goldblonden Buben und ihrer hübschen Mutter fort. „In Rainfeld kenne ich jeden. Da wächst so etwas nicht wie Sie und Ihre Kinder.“ Barbara überhörte das kleine Kompliment, stellte sich vor und erklärte ihre Anwesenheit im Dorf. Dann belud sie mit Rainer und Florian den kleinen Leiterwagen, und der Förster half dabei. „Weiter oben, wo das Nutzholz geschlagen worden ist, liegen genug frische Späne, gerade recht für in die Feuerung zu stecken. Das gibt wertvolleres Brennholz als diese dürren Äste, die schnell zum Schornstein hinausfliegen. Es ist zwar Staatswald, aber ihr könnt hingehen. Ich bringe euch gelegentlich einen Holzschein vorbei.“ Dann frug er nach der Wohnung der Familie Kolb. Barbara erklärte ihm: „Wir wohnen im zweitletzten Haus auf dem Fahrweg, der da drüben steil in den Wald hinein führt.“ Der Förster fragte: „Wer ist denn der Besitzer des Hauses?“ Als er hörte, dass es der Karl Wagner war, sprach er vor sich hin: „Ein gerissener Bursche, der Karl, er hat’s verstanden, in den Besitz des Anwesens zu kommen.“ „Wieso?“ wollte Barbara wissen. Der Förster erzählte, dass der Wagner nach dem Tode des Hofbesitzers viel bei der Witwe ein- und ausgegangen sei. Im Anfang half er ihr bei den Arbeiten. Nach und nach verpachtete und verkaufte die Frau das Feld, schaffte das Vieh ab, denn leibliche Erben gab es nicht, und altershalber wurde ihr der Hof zu viel. So überschrieb sie ihn dem Karl, den sie gern mochte, zu einem spottbilligen Preis. Das war vor etwa zwei Jahren. Kurz danach starb sie.

 

„Wollen wir uns nicht auf den Stamm da drüben setzen?“ lud der Förster ein. „Da können wir uns noch ein wenig unterhalten. Ich habe Feierabend und Sie wohl auch.“ Sie setzten sich, die Buben rechts und links von der Mutter. Florian betrachtete den Forstmann von der Seite. Der hatte seinen Hut abgenommen, wodurch er nicht mehr so amtlich wirkte. „Du, Mama“, plapperte er, „vielleicht werde ich auch einmal Förster. Dann kann ich den ganzen Tag im Wald spazieren gehen.“ „Pscht!“ drohte die Mutter. Rainer gab für die Mutter Antwort. „Gestern wolltest du noch Schäfer werden, als wir bei dem Schäferschorsch im Wagen waren und er uns Mundharmonika vorspielte.“ Die Mutter fragte erstaunt: „Ihr wart in der Schäferhütte? Da ist doch kaum Platz für drei.“ Rainer sagte: „Wir haben auf dem Bett gesessen. Es war sehr gemütlich.“ „Hat er denn ein richtiges Bett?“ wollte die Mutter wissen. „Ein großes, weiches Bett mit rosa Blumen drauf“, redete der Kleine drein. „Ja, das ist wahr“, fuhr Rainer fort.

 

„ Der Schäfer sagte, dass es frisch bezogen ist und dass die Frau des Herdenbesitzers das alle vier Wochen für ihn macht.“ „Soll ja keiner gering über den Schäferberuf denken“, belehrte der Förster die Kinder. „Der Schäfer hat seinen Beruf gelernt wie jeder andere Handwerker. In seiner Herde kennt er jedes Tier. Wenn ein Schaf hinkt, untersucht er den Huf. Manchmal ist ein Dorn drinnen. Den zieht er heraus und macht Heilsalbe auf die Wunde. Verkrustete Schwanzwolle schneidet er ab und trägt die neugeborenen Lämmer, wenn sie zu schwach zum Laufen sind. In den Hochsommertagen schert er mit einem Gehilfen die Tiere. Der Schäfer ist ein naturverbundener Mensch“, erzählte der Förster weiter. „Er kennt alles, was auf der Wiese und im Wald wächst, besonders Heil- und Giftpflanzen. Wenn er morgens aus der Hütte springt, schaut er nach dem Himmel, den Wolken und registriert schnuppernd frische oder warme Luft und die Windrichtung. Er macht seine eigene Wettervorhersage und hält nichts von der gelehrten Meteorologie.“ Barbara meinte: „Sicher hat auch ein Förster, der viel im Freien ist, noch viel Naturinstinkt. Er nimmt Dinge wahr, die den Stubenmenschen längst verloren gegangen sind.“ „Es gehört zum Handwerk“, bestätigte der Forstbeamte.

 

Als die Kinder zwischen den Bäumen spielten, rückte der Förster etwas näher an die Frau heran. Mit einem prüfenden Seitenblick konstatierte er: „Irgend etwas an Ihnen erinnert mich an Löns-Romane. Vielleicht an „das zweite Gesicht“ – die Swantje? Kennen Sie Löns?“ „Oh ja,“ bestätigte Barbara. Ich war damals noch sehr jung und etwas prüde, als ich seine Bücher las – er schien mir ein gefährlicher Schwerenöter zu sein. Draufgänger, aber ritterlich. Vor allem aber begeisterten die Löns-Bücher das romantische Seelchen in mir.“ Der Förster sang leise vor sich hin: „Wo die grünen Tannen steh’n, ist so weich, so weich das Moos.“ Als sie so vor ihm stand, etwas verlegen und seinen bewundernden Blick auffing, dachte sie: „Er sieht wie Löns aus, das schmale Gesicht mit den großen, ernsten Augen, dem kleinen Schnurrbart und dem Jägerhut ... ich muss mich hüten.“

 

Scheinheilig stellte sie fest: „Auch Sie erinnern mich jetzt an Löns, da ist eine gewisse äußerliche  Ähnlichkeit. Sein Bild ist mir noch vertraut aus einem seiner Bücher. Und es ist nicht nur das Jägerkleid.“ „Wie schön, der Hermann hat seine Swantje entdeckt und sie erkennt ihn“, sprach er mit weicher Stimme, die einen großen Gegensatz zu seinem rauen Auftreten am Anfang bildete. „Es war nett, dass ich Sie getroffen habe, Frau Kolb. Im Übrigen habe ich versäumt, mich vorzustellen: Faust, Hermann Faust. Selten blüht einem wie mir das Glück einer angenehmen Unterhaltung mit einem sympathischen Menschen.“ „Sie haben doch eine Familie, Sie Schmeichler“, sagte Barbara. „Ja, ich habe eine brave Frau und zwei liebe Söhne“, gab er zu.

  • (Es handelte sich möglicherweise um Förster Gath von der Tenne und später auch um seine Familie.)                                                                                                                                                            *

 

Als Barbara mit dem Leiterwagen die steile Fahrstraße zum Dorf herunterkam, wobei die Kinder als Bremse hintendran hingen, läutete gerade die Gemeindeglocke an der Kreuzung.

 

9. Fortsetzung

 

So funktionierte hier noch die amtliche Bekanntmachung. Nette, die Frau des Polizeidieners, las vom Blatt die Backordnung der Woche, den Beginn des Heumähens und dass es bei Strafe verboten sei, Tabakpflanzen im Garten anzubauen. Barbara hielt den Wagen an, damit nichts von den Neuigkeiten unterging. Aha, Tabak anpflanzen ist verboten, ergo gibt’s irgendwo welche zu kaufen, registrierte sie.

  • (Nette hieß tatsächlich so mit Vornamen. Sie und ihr sehr klein gewachsener Mann Otto Frankenbach, übrigens kein Polizeidiener, versahen das Amt der Bekanntmachungen und das Glockenläuten, das damals noch per Hand geschah. Später wurde es von ihrem Adoptivsohn Herbert Scholl, ursprünglich ein Pflegekind, und dessen Familie versehen. Der leibliche Sohn der Frankenbachs blieb im Krieg vermisst.)

 

Es war nicht nur der Reiz des Verbotenen, der zu dem Entschluss führte, Rauchtabak anzubauen. Die Pflanzen mussten, wenn man sie erst hatte, gut getarnt zwischen dem Gemüse einzeln versteckt werden. Martin Kolb war starker Raucher, und seine Frau freute sich schon darauf, ihn eines Tages mit Eigenanbau zu überraschen. Eines Tages standen tatsächlich kräftig wachsende Tabakpflanzen im Garten. Später hingen die geernteten Blätter auf  Schnüren aufgezogen zum Trocknen hinter der Scheuer, wo keiner hinkam. Anschließend wurde fermentiert und geschnitten. Das Kraut roch wirklich nach Pfeifentabak. Die Gärtnerin aus Liebe konnte es kaum glauben und war mächtig stolz.

 

Die Gelegenheit zum Probieren aber kam viel später, als Barbaras Mann aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war. „Sag mal, willst du mich umbringen?“ rief er entsetzt nach den ersten Zügen, „von dem Zeug wird mir ja übel.“ „Da hat das Fermentierungsrezept wohl nichts getaugt“, verteidigte sich seine Frau. Ich habe es genau befolgt und bin sehr enttäuscht, dass die Arbeit umsonst war.“ „Der Scheuerbambeler“, wie die heimlichen Tabakpflanzer das Zeug spöttisch nannten, als nach dem Krieg auch dieses Vergehen gegen die strengen Gesetze unter die Amnestie gefallen war, hatte allgemein die Erwartungen nicht erfüllt. Jede Sache will eben erlernt und verstanden sein. Die gemachten Fehler wurden nicht mehr diskutiert, als es wieder Tabakwaren frei zu kaufen gab.

 

Rainer, der jetzt im dritten Schuljahr war, kam aufgeregt aus der Schule. „Mama, ich habe eine Überraschung für dich. Dem reichen Bauer Scholz sein Erwin, der ein Jahr jünger ist als ich, braucht Hilfe bei den Hausaufgaben. Seine Mutter hat den Lehrer gefragt, wer das übernehmen könnte. Er solle dafür jeden Tag ein gut belegtes Frühstücksbrot bekommen. Der Lehrer sagte: ‚Nehmen Sie den Rainer, er ist ein guter Schüler und ein Schinken- oder Wurstbrot, das seine Mutter ihm nicht geben kann, wird schon für den nötigen Eifer sorgen.’“ Stolz war der Rainer, sich schon etwas verdienen zu können, wenn ihm auch die Stunden sauer wurden, wo er statt zu spielen mit dem faulen Bengel büffeln musste.

  • (Der reichste Bauer war der Ortsbauernführer Albert Ott, es ging vermutlich hier um seinen Sohn Erich.) 

 

                                                                       *

 

Eigentlich hatte die Stadtfamilie vor gehabt, einen Hund als Gefährten und Bewacher auf den Hof zu nehmen. Es erübrigte sich aber auf kuriose Weise. Zu der kleinen Hühnerschar gehörte ein Hahn, wie aus dem Bilderbuch entsprungen. Anfangs führte er nur wachsam seinen Harem in den Wiesen spazieren. Doch als er in seine besten Hahnenjahre kam, entwickelte er sich zum Tyrannen. Mutig bis zur Selbstaufgabe griff er jeden Nachbarhahn an. Auch bei einem großen Truthahn versuchte er es. Der richtete ihn allerdings böse zu. Gereizt durch die Zutraulichkeit der Hühner gegenüber den Kindern, griff er nun auch Menschen an, die Kinder an erster Stelle. Nicht nur Barbara, die ihn doch fütterte, wurde verfolgt, sondern auch Leute und Kinder aus dem Dorf, die auf den Hof kamen. Kindern flog er auf den Kopf und hackte gefährlich zu. Ging Barbara ahnungslos über den Hof, passierte es, dass es plötzlich dicht hinter ihr seltsam kratzte. Er flog dann von hinten hoch und zerrte mit dem Schnabel an ihren Kleidern. Rettete man sich ins Haus, blieb er auf den Fersen bis in die Küche hinein. Schärfer als dieser Gockel konnte auch ein Hund nicht sein.

 

                                                                       *

 

Während Barbara bei der Heuernte beschäftigt war, kam nach langem Warten ein Feldpostbrief von ihrem Mann. Er kündigte seinen Besuch in den nächsten Wochen an.      

 

Die Familie war wieder einmal komplett. Die Buben hingen den ganzen Tag an ihrem Vater, und die Mutter genehmigte sich einen kleinen Urlaub für die wenigen Tage des Zusammenseins. Gemeinsam gingen sie im Wald spazieren, pflückten Beeren, saßen im Garten. Martin Kolb, der Despot aus Veranlagung, kritisierte das Maß, mit dem sich seine Frau bei den Arbeiten im Dorf engagierte. Sie versuchte ihm klar zu machen, dass sie mit den Kindern nun in diese Dorfgemeinschaft gehöre und manchen Nutzen davon hätte. Abkapseln wäre falsch und gefährlich, auch im Sinne menschlicher Vereinsamung. Das Ehepaar konnte sich darüber nicht einig werden.

 

Der Vater hatte seiner Familie eine junge Ente mitgebracht, die zu einem späteren Braten vorgesehen war. Irgendwo hatte er sie aufgetrieben. In den Topf kam sie aber nicht, und zwar in doppeltem Sinne. Fürs Erste reihte sie sich als zahmes Haustier in die Schar des übrigen Federviehs ein. Bei Rainer und Florian genoss die Ente eine Sonderstellung. Undenkbar, sie zu töten und aufzuessen. Sie nahmen ihren Liebling mit zum Bach, wo es wahre Fundgruben an Würmern und Schnecken gab. Begeistert stocherte sie im Schlamm und unter Steinen. Später überraschte sie mit regelmäßigem Eierlegen. In einem Nachbarhof hielt man eine größere Entenfamilie, der sich der Einzelgänger bald anschloss, ja manchmal dort übernachtete. Doch der Tag, da die zahme Ente nicht mehr in den eigenen Stall zurückkehrte, nahte sehr bald. Trotz allen Suchens und Nachfragens blieb sie verschwunden. Und das hing zusammen mit dem anderen Grund, aus welchem sie kein Braten für die Besitzer wurde. Aber zu dieser Zeit war Martin Kolb längst wieder an der Front. Das kurze Miteinander der Familie wurde nur täglich durch die Attacken des streitbaren Hahns gestört, der den neuen Mann im Hof bevorzugt angriff. Bei einer solchen Gelegenheit, ohne sonstige Abwehrmöglichkeit, schlüpfte er aus dem Pantoffel und schlug mit diesem zu. Es war das Ende der damals unersetzlichen Lammfell-Hausschuhe. Von dem energischen Zuschlagen war das Oberleder aufgerissen. Wütend prophezeite der Angegriffene seinem kleinen Feind: „Wenn du bei meinem nächsten Besuch noch lebst, hau’ ich dich in die Pfanne.“

 

                                                                                  *

 

Seit Barbara im Dorf lebte, hatte sie Ärger mit dem Schuhmacher, der in einem entfernten Ort ansässig war. Zwei Buben zerreißen viele Schuhe auf den unbefestigten Wegen. Etwas Neues kommt kaum hinzu. An Bezugsscheine ist schwer heranzukommen. Und Kinderfüße wachsen schnell. Also musste das alte Schuhwerk immer wieder zusammengeschustert werden.

 

Dieser Schuster hatte eine kleine Landwirtschaft, von der er lebte. „Das Flicken lohnt sich nicht mehr“, bekam die Kundschaft oftmals zu hören. Doch auf das Flehen der Mutter tat er es nach langen Wochen und vergeblichen weiten Wegen doch. Die lädierten Lammfell-Pantoffel lagen seit dem Urlaubsende des Vaters in einer Ecke der Werkstatt. Als Barbara wieder einmal danach fragte, schlürfte die Schustersfrau gerade aus dem Stall mit dem Melkeimer, an den Füßen ihres Mannes Lammfellschuhe. Barbara starrte auf die Füße, die in den schlecht reparierten Hausschuhen steckten und verdreckt, schief gelatscht und voll Kuhmist waren. Barbara schrie empört: „Auf der Stelle ziehen Sie die Schuhe aus. Sie gehören meinem Mann, dem sie zu schade fürs Frontgepäck waren. Sie waren fast neu bis auf den Riss im Oberleder. Nun sind sie heruntergetreten und bestimmt nicht vom einmaligen Gebrauch. War wohl ein selten molliges Schuhwerk für den Stall.“ Die Frau schmiss wortlos die Schuhe hin, lief auf Wollsocken ins Haus und knallte die Türe zu. Die geschockte Barbara nahm die Schuhe auf, kratzte mit einem Holz das Gröbste ab und verließ den Hof, um ihn nicht mehr zu betreten. Demnächst musste sie einen anderen Schuster aufsuchen, der noch weiter weg wohnte

  • (Schuhmacher im Nachbardorf  = vermutlich in Finsternthal, noch weiter weg: vermutlich in Reichenbach)    

 

Tagebuch Juli 1943

 

Mein Mann ist wieder fort. Das Zusammensein habe ich noch nicht verdaut. Die Nachbarn beglückwünschten mich: „Wie froh werden Sie sein über den Besuch Ihres Mannes!“ „Ja, sehr“, habe ich geantwortet. Es war übertrieben. Vorher hatte ich mich wirklich gefreut. Doch schon in der ersten Stunde bekam ich die üblichen Lektionen: „Warum steht dieser Tisch in der Mitte? Wir stellen ihn gleich an einen anderen Platz. Die Bilder müssen umgehängt werden...“ „Ich fand es praktisch und harmonisch, denn es ist zur Zeit nur mein Heim, leider“, gab ich zurück. „Du kleidest dich wie ein Bauernmädchen, es passt nicht zu dir“, ging’s weiter. „Setz dich zu mir auf die Couch“, bat ich ihn, wir wollen nicht über unwichtige Dinge reden. Du bist da, das ist die Hauptsache.“ „ Selbstverständlich sollte es sein, dass wir zusammen leben. Dieser verfluchte Krieg stiehlt uns die Jahre. Später, wenn alles vorüber ist, werde ich dir Einzelheiten erzählen. In der kurz bemessenen Zeit will ich dich nicht belasten.“

 

10. Fortsetzung

 

„Ungeduld hilft uns beiden nicht“, habe ich ihm gesagt, „sie verzehrt die Kraft, die wir brauchen zum Durchhalten.“ Ich stand auf und nahm ein Buch aus dem Schrank. Wo ein Zeichen eingelegt war, schlug ich auf: „Eine beglückte Liebe hätte Deines Herzens Sehnsucht gestillt und sich vertilgt. Aber eine unterbrochene hat sie verewigt. Das Schicksal geht mit uns wie mit Pflanzen um, es macht uns durch kurze Fröste reifer“, las er, nachdem ich ihm das Buch gereicht hatte. Es war von Jean Paul.

 

„Ich muss es noch einige Male lesen, um es zu verstehen“, sprach er und eine kleine Rührung stand in seinem Gesicht. Martin, von der Stimmung des Augenblicks beeindruckt, dem Daheimsein ergriffen, fragte leise: „Was ist Liebe aus deiner Warte?“ Ich sagte ihm, dass ich oft darüber nachgedacht habe und doch eine Weile brauche, um mich auszudrücken. Stockend – etwas gehemmt – kam es mir über die Lippen: „Liebe ist wie Rauschgift, das den Alltag vergessen lässt.“ „Schön hast du das gesagt“, meinte er. „Du solltest Bücher schreiben, in welchen diese Weisheiten verewigt werden.“ So ist er. Er reißt mich immer wieder aus den Wolken und stellt mich unsanft auf die Füße. Er nimmt mich in die Arme, aber seine Zärtlichkeit hat keinen Bestand. Sie kommt und geht wie der wechselnde Wind. Und ich fühle mich traurig und unverstanden.

 

                                                                       *

 

Rainer und Florian hatten den Verlust ihrer zahmen Ente noch nicht vergessen. Immer wieder schauten sie in fremde Bauernhöfe in der Hoffnung, das Tier wiederzufinden. Bei der Nachbarin mit der eigenen Entenzucht gab man sich die größte Mühe, den Fuchs als Dieb zu belasten. Es wirkte nicht glaubhaft. Die derzeitige Strohwitwe hatte einen Hausfreund, der sie angeblich in steuerlichen Angelegenheiten beriet, während der kleine Schreinereibetrieb wegen Einberufung des Besitzers ruhte. Böse Zungen sprachen den Verdacht aus, dass es mit der Steuerberatung nicht weit her sei, sondern Liebe gegen Essbares kompensiert würde. Und dass die verschollene Ente geradezu ins Messer gelaufen sei. Die zweifelhaften Tugendwächter, die Solches hinter der vorgehaltenen Hand verbreiteten, hatten beobachtet, wie die Liebeshungrige bei ihrer Feldarbeit den Taschenspiegel aus ihrer Schürzentasche nahm, kritisch Gesicht und Frisur begutachtete, als der „Berater“ mit dem leeren Rucksack im Anmarsch war. Und durchs offene Küchenfenster war bald nach Betreten des Besuchers ein appetitlicher Duft wahrzunehmen. Da klopfte ein Neugieriger an die Tür und brachte als Vorwand den gemeindeeigenen Krauthobel, der von Haus zu Haus ging, zum Einschneiden des Sauerkrautes. Mit Befriedigung sah er zwei Strahlende am Küchentisch sitzen. Der Fremdling widmete sich mit Gier einem großen Schweinekotelett. Gegen Abend wurde er mit prall gefülltem Rucksack auf dem Heimweg gesehen, und nach Kartoffeln sah die Füllung nicht gerade aus, obwohl auch diese damals begehrt waren. Nun, Rainfeld schien auch ein sündiges Dorf zu sein.

  • (Die Nachbarin mit der Entenzucht war Paula Vollberg. Ihr Mann hatte sich in einer Holzbaracke am Haus eine kleine Schreinerei eingerichtet und stellte Schlafzimmermöbel, Fenster, Blumensäulen, kurz, allen Tischlerbedarf für die Anwohner her.)

Heimliche Späher haben ihre Augen überall. Es entging ihnen auch nicht, wie eine junge Kriegerswitwe, sich scheu umsehend, auf einen fremden Heuboden schlich, worauf ihr bald der Bauer des Hofes folgte. Das Verhältnis wurde offenbar, als die betrogene Bauersfrau sich Freunden anvertraute, die Verschwiegenheit beteuerten, aber schwach wurden, wenn es um die Verbreitung einer Neuigkeit ging.

  • (Es gab nicht viele junge Kriegerwitwen. War es meine Mutter, Henriette Scherer? Mir erzählte sie später einmal, sie habe sich auf Anraten meiner Großmutter eines Abends heimlich in den Stall des Nachbarn geschlichen, um diesen zu fragen, ob nicht sein lediger Bruder sie heiraten wolle. So sei die Verbindung mit meinem Stiefvater zustande gekommen. Aber meine Mutter war auch vorher kein Kind von Traurigkeit. Als sie schon im Rollstuhl saß und bösartig geworden war, kamen eines Tages zwei fröhliche ältere Herren, die sie besuchen wollten mit der Begründung, sie sei doch früher „immer so lustig gewesen“. Damals war mein Vater im Krieg, und die beiden Männer waren Teil einer Einquartierung. Vielleicht war es aber auch Lina Steinmetz, die beim ersten Mann meiner Tante Erna Frömmer sogar durchs Küchenfenster geklettert sein soll, wenn die Ehefrau nicht zu Hause war, wie ihr Nachbarn hinterbrachten.)

 

                                                                       *

 

Nachdem das Getreide in die Scheunen gefahren war, ging Barbara täglich auf die leeren Stoppeläcker, um Weizenähren aufzulesen. Da hatte sie die Kinder in ihrer Obhut, und wenn sie einer Fata Morgana gleich schilderte, welch herrliche, fast unbekannte Dinge man mit weißem Mehl zaubern kann, halfen sie fleißig bei der Arbeit. So brachte es die Familie in einem Sommer auf 50 Pfund  Weizenmehl. Als sie eines Tages müde mit den vollen Säckchen nach Hause kam, stand der Förster vor der Haustüre. „Ich bringe endlich den versprochenen Holzschein, Frau Kolb, der berechtigt, im Staatswald Holz zu lesen“, rief er Barbara entgegen. „Danke“, antwortete Barbara, „kommen Sie mit ins Haus, dann trinken wir zusammen einen kalten Himbeersaft, die Kinder sind auch durstig.“ Sie führte den Förster ins große Wohnzimmer und ging in den Keller Saft holen. Die Kinder brachten Gläser und alle genossen den erfrischenden Trank. Der Förster schaute sich um und sagte: „Nett haben Sie es hier. Man merkt, dass hinter der windschiefen Fassade kultivierte Menschen leben.“ Vor dem Bücherschrank blieb er stehen: „Zeige mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist.“ Barbara gefiel diese Formulierung nicht. „Vorsicht, da kann man sich irren.“ „Neulich haben wir von Herrmann Löns gesprochen,“ fuhr der Förster fort. Wissen Sie noch, wie er seine Frau mit Kosenamen nannte?“ Barbara verneinte. „Eulchen“, sagte er, „es ist mir eingefallen, als ich Sie ansah.“ „Danke für das Kompliment. Also wie eine Eule sehe ich aus?“ „Nur die Augen“, sagte er. Im Übrigen sind Eulen faszinierende Vögel.“ Rainer schaltete sich ein: „Abends und in der Nacht hören wir sie manchmal rufen. Mein kleiner Bruder hat dann Angst und kriecht unter die Bettdecke.“ „Das brauchst du nicht zu tun, Florian“, belehrte ihn der Förster. „Nachtvögel sind so harmlos wie Tagesvögel. Wenn du das Rab-rab der Krähe oder das Hi-hi des Habichtes hörst, erschrickst du ja auch nicht. In unseren Wäldern gibt es noch den Waldkauz, die Schleiereule und den großen Uhu, der genau so heißt , wie er schreit. Nachts fangen sie ihre Beute. Menschlicher Aberglaube hat Unglück mit ihrem Ruf verbunden.“ Florian aber meinte entschlossen: „Wenn ich nachts allein durch den Wald gehen müsste, wenn die Eulen rufen, will ich doch lieber kein Förster werden.“ „Habt ihr schon mal Hirsche aus der Nähe gehen?“ fragte der Förster. Und zu Barbara: „Meine Frau stellt Gemüseabfälle und Kartoffelschalen an den Waldrand, in der Nähe unseres Forsthauses. Nach Eintritt der Dunkelheit kommt oft ein Rudel Hirsche. Man muss schon in der Dämmerung da sein und sich ganz ruhig verhalten. Ich sage Bescheid, wenn Sie mal mit den Kleinen kommen können, ist ja nur eine halbe Stunde bis zum Forsthaus.“ Es war ein Erlebnis für die Stadtfamilie, bei halb bewölktem Nachthimmel die großen Tiere herankommen zu sehen, voran der sichernde Bock. Deutlich hörte man das Knabbern der Gemüsestrünke, so nahe waren sie. Anschließend brachte der Förster Barbara und die Kinder nach Hause, nachdem die Förstersfrau sie für den nächsten Sonntagnachmittag eingeladen hatte.

 

Die Familie Kolb fand sich also zur vereinbarten Zeit im Forsthaus ein. Einsam stand es am Anfang eines umwaldeten Wiesentales, das von einem Hochsitz aus gut überschaubar war. Das große, mit einem hölzernen Jägerzaun eingefriedigte Anwesen hatte einen gepflegten Vorgarten, in dessen Mitte ein Rondell der schönsten gelben Teerosen in Blüte stand. Von den Rabatten entlang des Gartenweges dufteten Nelken, Reseden, Levkojen und Wicken. In einer Ausbuchtung standen wild  durcheinander gewachsen Rittersporn, Lupinen, Sonnenblumen, Digitalis, Königskerzen und Margeriten. Die Blumenfreundin Barbara war entzückt und nannte den Kindern die Namen der Pflanzen.

 

Frau Faust, die Förstersfrau, hatte den Besuch schon kommen sehen und ging, gefolgt von einem irischen Setter und einem braunen Kurzhaardackel, den Gästen entgegen. Die Hunde gaben kurz Laut und ließen sich dann sofort mit den beiden Buben ein. „Das sind die Jagdhunde meines Mannes“, sagte Frau Faust, „sie sind abgerichtet, aber sonst sehr friedlich.“ Sie ging voraus ins Haus. Wütendes Gebell war hinter einer geschlossenen Tür zu hören und Barbara fragte erstaunt: „Wie viele Hunde gibt es denn in diesem Haus?“ „Das werden Sie gleich erfahren“, antwortete die Frau. „Die Friedfertigen haben Sie schon kennen gelernt. Die beiden anderen sind mit Vorsicht zu genießen. Für sie gilt der Spruch über der Haustür: Lave canem.“

  • (Im Lateinischen heißt der Spruch: Cave Canem!)

„Mit meinem Latein ist es nicht weit her“, gestand Barbara. „Über diese Schwelle treten selten Lateiner“, sagte die Förstersfrau. „Aber als der Oberförster einmal hereinpolterte, hat der Rehpinscher ihn wütend in die Hose gebissen. Daraufhin schenkte er meinem Mann den Spruch. Er bedeutet: Hüte dich vor dem Hund.“ Als Barbara mit den Kindern ins Wohnzimmer kam, fuhren zwei Winzlinge zähnefletschend auf sie los, ein Zwergschnauzer und ein Rehpinscher. Die Förstersfrau nahm unter jeden Arm einen. „Meine ständigen Begleiter und Leibwächter“, stellte die Försterin sie vor.

 

Der Kaffeetisch war schon gedeckt. Zwei Kuchenberge von geschnittenem Blechkuchen, wechselweise aufgeschichtet, einer mit Streuseln, der andere mit Kirschen, bildeten in diesen mageren Zeiten einen einladenden Luxus. Der kleine Florian schaute mit großen Augen begehrlich auf so viel Kuchen, bis sein Bruder grob sagte: „Glotz nicht so auf den Kaffeetisch, du blamierst uns ja.“ Barbara war peinlich berührt von dem Verhalten der Buben. „Das Landleben färbt ab“, entschuldigte sie sich, „der Kleine hat ewig Hunger und verleugnet’s noch nicht. Der ältere Bruder weiß halbwegs, was sich gehört, obwohl er nicht weniger hungrig ist.“

 

11. Fortsetzung

 

„Wir haben auch zwei Buben“, sagte Frau Faust verständnisvoll. Die benehmen sich auch nicht gerade fein, obwohl sie schon etwas älter sind.“ Und zu den Kindern gewandt: „Schaut auf den Wiesenweg. Da kommen sie mit ihrem Vater. Nun kann ich den Kaffee aufbrühen. Ihr könnt Milch haben“, bot sie den Kindern an, „von unserer Kuh.“ Barbara staunte: „Sie haben eigene Landwirtschaft?“ „Ich stamme vom Bauernhof. Stallungen waren da und die Zeiten schlecht. Da habe ich eine Kuh, ein Schwein, Ziegen, Schafe und Hühner angeschafft. So sind wir unabhängig von Lebensmittelkarten einerseits und Bauern andererseits. Einige Äcker und Wiesen für Kartoffeln, Getreide und Heu bestellen uns die Waldarbeiter. Eine Bauersfrau backt uns das Brot. Setzt euch an den Kaffeetisch“, forderte die Gastgeberin freundlich auf. Sie brauchte es nicht zwei Mal zu sagen. Florian saß als Erster und starrte erwartungsvoll auf den aufgestapelten Kuchen. Frau Faust setzte ihre Söhne Christof und Dietrich zu Barbaras Buben. Sofort alberten die Kinder miteinander herum, vergaßen aber darüber nicht, sich den Mund voll zu stopfen. Micki und Mecki, die kleinen Hunde, bettelten bei dem Besuch um ein Häppchen. Sie hatten die Fremden jetzt akzeptiert. Die Jagdhunde hatten im Hof einen Zwinger und eine Hütte und kamen nur gelegentlich ins Haus.

 

Als die Kinder satt waren, liefen sie vom Tisch hinters Haus, wo auf einer Koppel die Kuh, zwei Ziegen und einige Schafe mit Lämmchen weideten. Ein kleiner Quellbach, der durch die Weide floss, diente als Tränke.

 

Die Erwachsenen saßen noch eine Weile am Kaffeetisch. Barbara erzählte von sich und ihrem Mann und wie es zugegangen war, dass sie seit einigen Jahren in Rainfeld lebte. Sie lud die Förstersfamilie zu einem späteren Termin zum Sonntagskaffee ein. Dazu erläuterte sie: „Das Mehl vom Ährenlesen können wir erst in einigen Wochen in der Mühle holen. Dazu fehlt dann noch das Bucheckernöl, das kaum vor Weihnachten ins Haus kommt.“ „Vorerst hängen die Bucheckern noch fest an den Ästen und fallen nicht vor September“, bemerkte der Förster. „Mühselige Arbeit“, bestätigte Barbara, „hab’s vor zwei Jahren schon versucht, aber da gab es nicht viel. Zwei Liter Öl haben wir geerntet. Dieses Jahr hängen die hohen Buchen sehr voll. Jedenfalls gibt es das gemeinsame Kaffeetrinken und Kreppelessen, wenn es so weit ist. Und zu Pellkartoffeln und Quark kann ich kaum jemand einladen“, fügte sie hinzu. Die Erwachsenen standen jetzt auch vom Tisch auf und gingen hinaus zu den Kindern, die sich am Waldrand an den Turngeräten amüsierten. Die Försterbuben waren elf und dreizehn Jahre alt. Der Älteste ging schon aufs Gymnasium. Trotzdem verstanden sich die vier Buben auf Anhieb.

 

Der Förster zeigte ein kleines Wildgehege, in dem sich einige Eichhörnchen tummelten und ein halbwüchsiges Reh aus einer Futterraufe Heu zupfte. „Wir haben es aufgepäppelt“, sagte die Förstersfrau. „Die Geiß hatte es in die Wiese gelegt, ins hohe Gras. Beim Mähen wurde es am Lauf verletzt. So was kommt hier öfter vor. Wir haben das Tierchen verbunden, geheilt und mit der Flasche groß gezogen. Im Frühjahr machen wir das Gatter auf, dann kann es sich die Freiheit nehmen, wenn es will. Manche verschwinden für ein paar Tage und kommen zurück an den gedeckten Tisch. Andere kamen später mit dem Nachwuchs zu Besuch oder gar nicht mehr. Tiere, die wir länger hatten, verschwanden meist in der Brunftzeit auf Nimmerwiedersehen.“

 

Die Förstersfrau war eine grobknochige korpulente Fünfzigerin. Sie musste älter als ihr Mann sein. Irgendwie passten die beiden äußerlich nicht zusammen. Dennoch dominierte der Eindruck einer klugen, tüchtigen, ausgeglichenen und mütterlich liebenswerten Frau. Beim Verabschieden sagte Barbara: „Frau Faust, Sie haben uns eine große Freude gemacht, und wir bedanken uns herzlich für den schönen Nachmittag. Leider kann ich mich vorläufig nicht revanchieren.“ „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wer in dieser Zeit etwas mehr hat als andere, muss mal helfen können., aber das heute war nur eine kleine Aufmerksamkeit,“ antwortete die Försterin. „Wissen Sie, wir bekommen ab und zu etwas vom elterlichen Hof. Mit dem, was wir uns hier erwirtschaften, ergibt es zusammen ein Auskommen, mit dem wir zufrieden sind.“ Dann ging sie zu ihrem abseits stehenden Mann hin und sprach leise auf ihn ein. Der nickte und sagte zu dem Besuch: „Warten Sie noch ein paar Minuten. Ich hole Ihnen etwas.“ Die beiden Frauen setzten sich inzwischen auf die Gartenbank. „Frau Kolb“, erklärte die Förstersfrau die leise Unterredung mit ihrem Mann, „mein Mann holt Ihnen im Keller einen Wildschweinbraten. Er hat gestern eine Wildsau im Kartoffelacker geschossen. Weil sie unter dem meldepflichtigen Gewicht ist, braucht er sie der Forstbehörde nicht abzuliefern. Bei normal großen Tieren bekommt der Jäger, also der Mann, der den Abschuss vollzog, nach altem Brauch nur die inneren Organe, wie Herz, Lunge, Leber, Nieren. Das Fleisch wird über das Forstamt zur Bewirtschaftung verkauft. Reden Sie trotzdem nicht drüber, denn es könnten verfälschte Gerüchte entstehen. Wir haben Vertrauen zu Ihnen.“ Inzwischen kam der Förster mit einem Rucksack. Er meinte: „Da sieht man nicht, was drinnen ist. Es sind zwei bis drei Pfund Keule, die acht Tage eingelegt werden muss, jeden Tag frisch, am besten in Buttermilch. Wenn Sie die nicht haben, kann es auch gewöhnliche Magermilch sein. Das gibt einen mürben Sonntagsbraten.“ Barbara war gerührt: „Sie machen mich verlegen, indem Sie einer Fremden so gefällig sind. Nicht genug, dass wir uns an dem guten Kuchen satt gegessen haben, und nun noch das. Das werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen.“ „Vergessen Sie’s,“ empfahl der Förster. Heutzutage darf eine Hand nicht wissen, was die andere tut. Sie sind eine tapfere Frau und haben’s verdient.“ Barbara zweifelte: „Vielleicht für harte Arbeit bei den Bauern. Aber dass Sie so freundlich sind, einfach so – ohne Grund, gibt mir meinen Glauben an das Gute im Menschen wieder.“ Am nächsten Tag brachten die Buben den Rucksack zurück ins Forsthaus. Für die Förstersöhne waren zwei Bücher drinnen aus Barbaras Bücherschrank, eines über Wildpflanzen, ein anderes über Pilze.

 

Ab und zu fuhr Barbara für einen Tag in die Stadt, um in dem ruhenden Geschäft ihres Mannes nach dem Rechten zu sehen. Der Bombenkrieg hatte schon ganze Stadtviertel Frankfurts zerstört. Doch bis jetzt waren die Lagerräume, deren Bestand das kleine Vermögen der Kolbs darstellte, verschont geblieben. Wie lange noch? Diese strapaziösen Fahrten zur Stadt begannen in der Jahreszeit der kürzeren Tage vor Tagesanbruch mit einem einstündigen Fußmarsch auf einsamen Wiesen- und Waldwegen, um zur nächsten Bahnlinie zu gelangen. Bei der Rückkehr war es meist stockdunkle Nacht. Barbara neigte schon immer zum Fürchten. Von solcher Veranlagung kann man sich nur schwer befreien, trotz aller vernunftmäßigen Vorstellungen. Auf jenen Wegen, die sie bei strahlendem Sommerwetter unbesorgt ging, erschreckte im Dunkeln das geringste Geräusch. Einmal saß ihr die pure Angst im Nacken. An einem unfreundlichen Herbstmorgen war sie wieder unterwegs. Zur Finsternis kam ein dichter Nebel. Plötzlich rief eine raue Männerstimme aus dem Dunst: „Wieviel Uhr?“ Barbara erstarrte. Es rieselte ihr eiskalt über den Rücken. Ihre schnellen Schritte auf dem harten Fahrweg hatten also einen fremden Mann auf ihre Spur gebracht. Nach einer Weile atem-losen Lauschens schlich sie auf dem grasigen Wegrand, der die Schritte dämpfte, davon. Gehetzt und verstört saß sie später im Bus und fand keine Erklärung für den Schreck im Morgengrauen. Wollte sie etwa einer aus dem Dorf in Furcht versetzen? Wer schleicht sonst schon im Dunkeln in der Abgeschiedenheit dieser Gegend herum? Ein Wilddieb – die gab es hier zweifellos – würde sich ruhig verhalten. Die Frage nach der Uhrzeit ... nein, Wegelagerer gab’s doch nicht mehr, es hätte sich nicht gelohnt. Barbara nahm sich vor, unbedingt bei Tageslicht auf dem Rückweg zu sein.

 

Die Sonne hatte sich am Nachmittag durch den Nebel gekämpft, als die verängstigte Frau auf dem Heimweg war. Sie schämte sich ihrer Feigheit am Morgen und genoss erleichtert den Frieden der Herbstlandschaft. Im Wiesengrund weidete eine Schafherde. Daneben stand die Schäferhütte. Etwa an dieser Stelle war sie am Morgen angerufen worden. Sollte der alte Schäfer sie angerufen haben? Vielleicht hatte er die Schritte gehört und wollte die Zeit wissen. In einer Unterhaltung wenig später bestätigte er dies. Seine Uhr war stehen geblieben. Er lachte die Mutter seiner kleinen Freunde Rainer und Florian aus: „Sie sind mal ein Angsthase! Man merkt Ihnen den Stadtmenschen an, der sich einbildet, im Dunkeln müssten Räuber und Gespenster lauern.“

 

                                                                       *

 

Die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende erwies sich als illusorisch. Die Fronten, an welchen erbarmungslos gekämpft wurde, weiteten sich aus. In großen Verbänden überflogen feind-liche Bomber auch den stillen Taunus und ließen das Unheil erahnen, das sie in den großen Städten hinterließen. Detonationen und Fliegerabwehr drangen gedämpft bis in das stille Tal. 

 

12. Fortsetzung

 

Die Verdunkelungsrollos aus schwarzem Papier wurden dichter gemacht, damit nicht der geringste Lichtschein eine menschliche Ansiedlung verrate. Denn längst fielen die Bomben nicht allein auf kriegswichtige Industriebetriebe. Eines Abends lauschte die Mutter mit ihren Kindern wieder auf das dumpfe Flugzeugbrummen. Es kam näher und tiefer. Barbara hatte das Licht ausgeschaltet, die Verdunkelung hochgezogen und saß, die Buben dicht an der Seite, am Fenster. Plötzlich erschien ein Feuerwerk besonderer Art am nachtdunklen Himmel. Leuchtfallschirme schwebten über dem Wiesental und verbreiteten eine gefährliche Helligkeit über den Häusern. Die Mutter presste ihre Kinder fest an sich und sagte: „Habt keine Angst, es wird nichts passieren.“ Für sich aber dachte sie: „Die Kinder dürfen nicht in Panik geraten. Wenn es uns hier zwischen den großen Wäldern treffen sollte, dann wollen wir gemeinsam sterben.“ Die Buben verhielten sich ganz ruhig in der mütterlichen Geborgenheit. Plötzlich erfolgte eine starke Explosion in dem höher gelegenen Hochwald, die das alte Fachwerkhaus vom Fundament her erbeben ließ. Gleich darauf verbreitete eine hoch lodernde Flamme grelles Licht im nachtdunklen Forst. Eine Weile saß die kleine Familie wartend im dunklen Raum. Auf der Dorfstraße regte es sich, einer rief: „Sofort alle ins Spritzenhaus, der Wald brennt.“ In einem abgelegenen Dorf gehört jeder männliche Anwohner vom Kindesalter an selbstverständlich zur freiwilligen Feuerwehr. In Minutenschnelle marschierten Männer und Halbwüchsige mit Hacken, Spaten und Löschgeräten zu der Absturzstelle eines großen englischen Bombers. Flammen und Rauchwolken wiesen den Weg. Auch Frauen und Kinder liefen hinterher. Barbara schloss sich mit ihren Buben an. Mitten im Tannen-Hochwald lag das ausgebrannte Wrack. Es musste Teile in der Umgebung verloren haben. Die fanden sich auch am nächsten Tag, dabei zwei verkohlte Leichen. Einige Männer der Besatzung hatten sich mit dem Fallschirm retten können. Die Männer des Dorfes hatten die Ausweitung des Waldbrandes stoppen können, indem sofort tiefe Gräben um die Brandstelle gezogen wurden. So wurde das Weiterglimmen im trockenen Waldboden, der dicht mit Tannennadeln bedeckt war, verhindert. Glücklicherweise kam Tauwetter mit Regen auf und löschte auf natürliche Weise.

 

Auch in der nachfolgenden Zeit fielen in unmittelbarer Dorfnähe über dem Wald Bomben, die nur tiefe Krater im weichen Waldboden rissen, sonst aber keinen Schaden anrichteten.

 

                                                                       *

 

Anfang Dezember klopfte es an der Küchentür und der Bürgermeister trat ein mit einem strauß-artigen Bündel Reiser in der Hand. Er reichte sie Barbara: „Ich gratuliere recht herzlich zum Namenstag. Als Ersatz für Blumen, die es um diese Zeit bei uns nicht gibt, habe ich Ihnen diese Gartenzweige geschnitten, die zu Weihnachten blühen sollen. Kennen Sie den alten Brauch? Heute, am 4. Dezember, dem Barbara-Tag, wird der Schnitt vorgenommen. Die Zweige müssen schräg angeschnitten werden. Zweckmäßig legt man sie einige Stunden in lauwarmes Wasser. Dann kommen sie in die Vase. Das Wasser muss täglich erneuert werden, natürlich lauwarm. Die Vase stellt man an einen hellen, warmen Platz, Luftfeuchtigkeit ist sehr zuträglich. Nicht alle Obst- und Ziergehölze eignen sich zum Schnitt. Ich habe Kirsch-, Flieder-, Jasmin-, Forsythien- und Kastanienzweige genommen. Übrigens, die Märtyrerin St. Barbara ist die Patronin der Bergleute und der Artillerie und wird bei Gewitter angerufen.“ Barbara sagte gerührt: „Ich danke dafür, dass Sie an mich gedacht haben und ich habe etwas zu meinem Namenstag gelernt.“ Winter stellte fest: „Sie haben mir Einiges geschrieben, und ich bin dankbar. Eigentlich lächerlich, so etwas wie diese vielleicht bald blühenden Zweige anzubieten, sie stellen keinen Wert dar. Dafür nehmen Sie noch ein kleines Würstchen. Oder denken Sie, Frau Kolb, der kommt ja wie ein Liebhaber, und Sie nehmen mich nicht ernst? Nun, die Lästermäuler werden sich den Kopf zerbrechen: ‚Was hat der Alte schon wieder bei der jungen Frau zu tun?’ Gar nicht so falsch, diese Überlegung. Er bewundert Sie, auch wenn Sie geringschätzig darüber denken. Einer Frau wie Ihnen kann man vertrauen. Sie werden es nicht an die große Glocke hängen, mit der unser Polizeidiener Gustav aus schellt. Aber nehmen Sie mich nicht ernst. Zwischen uns liegt mehr als eine Kluft, die Realitäten. Bindungen in der Familie, eine Generation, hier eine Dame, dort ein alter Bauer mit Kuhmist an den Sohlen und einem einzigen Sonntagshemd.“ Barbara antwortete achtungsvoll: „Herr Bürgermeister, Ihre Meinung von mir ehrt mich, weil sie von einem klugen, würdigen Menschen kommt, der Vertrauen verdient. Das Bäuerliche stört mich nicht. Sie können immer auf meine Hilfe bei den Gemeinde-Arbeiten rechnen.“

 

Winter fuhr fort: „Es ist schicksalhaft, in welche Verhältnisse der Mensch hineingeboren wird. Gerade auf dem Dorf gibt es da kein Entrinnen. Wenn es möglich gewesen wäre zu studieren, ich heute z. B. Lehrer wäre, das hätte mich befriedigt. Da wäre die Möglichkeit gegeben worden, mich nebenbei meinen poetischen Neigungen zu widmen.“ „Haben Sie die?“ fragte Barbara. Er zog ein Blatt aus der Tasche und gestand: „Manchmal schreibe ich Gedichte. Aber das darf keiner außer Ihnen wissen. Man würde mich für übergeschnappt halten.“ „Ich bestimmt nicht,“ entgegnete Barbara, indem sie das gereichte Blatt annahm und leise las:

 

„Wieder färbte sich der Wald, die bunten Blätter rief die Erde,

sie zu verwandeln, Jahr um Jahr, in lebensträcht’ge neue Werte.

Lebenskeim, Im Vergehen ruhend, Sinngebung für Mensch und Natur,

Da bleibt kein Raum für dumpfen Schmerz,

Totengedenktag – Trost fürs Herz.“

 

                                                                       *

 

„Druckreif“, rief die Frau aus, „jedenfalls was ich davon verstehe.“ „Da bin ich nicht sicher, so gerne ich es glauben möchte“, zweifelte der Bürgermeister. Zunächst beuge ich mich Ihrem Urteil. Es verpflichtet mich zu Dank und gibt mir Selbstvertrauen“, fügte er hinzu. Barbara überlegte: „Brauchen wir nicht alle eine Selbstbestätigung, das Bewusstsein der Bewährung, das uns Kraft fürs Weitermachen gibt? Sie sind zum Bürgermeister gewählt worden, weil Sie als der Fähigste befunden wurden. Darauf sollten Sie stolz sein.“ „Was sind Sie für eine gütige Frau,“ sagte Winter, „mir Trost und Mut zu geben. Ich bin ein Einsamer, von Jugend an. Die Familie weiß nichts von mir. Hätte auch keinen Zweck, könnte mir doch nicht helfen.“ Barbara scherzte: „Nun haben wir ein süßes Geheimnis. Keiner kennt es außer uns. Sie sind ein Dichter, und wir verehren uns gegenseitig. Natürlich im platonischen Sinne. Diese Form des ‚Sichmögens’ ist beständiger als die übliche Bindung zwischen den Geschlechtern. Außerdem belastet sie nicht das Gewissen wegen Untreue gegenüber dem jeweiligen Partner. Nehmen Sie meine Sprüch nicht ernst. Aber erlauben Sie mir, Sie von heute an als meinen väterlichen Freund anzusehen.“ „Gern. Wie wohltuend, sich gelegentlich mit einem vernünftigen Menschen unterhalten zu können. Ich bin ein Gefangener in einer Umgebung, in welcher man leicht dem Stumpfsinn verfallen kann.“ „Da hat’s bei Ihnen keine Not“, widersprach die Frau, „Ihr Ansehen im Dorf beweist das Gegenteil.“

 

                                                                       *                                                                                    

Sie hatten zusammen am Küchentisch gesessen, wo Barbara mit Kartoffelschälen beschäftigt gewesen war. Während der Unterhaltung hatte sie die Arbeit liegen lassen. Jetzt schaute Winter auf die Wanduhr und stand eilig auf: „In einer halben Stunde kommt das Postauto. Ich muss noch die abgehende Post richten.“ Damit war er draußen. Barbara aber dachte: „Was für ein prächtiger Mensch. Hätte doch mein Mann etwas von den Eigenschaften dieses Bauern-Bürgermeisters.“

 

Dann legte sie die Barbarazweige in eine Wanne mit lauem Wasser, wie es ihr empfohlen wurde, wickelte ganz nüchtern ein rundes Leberwürstchen aus, das höchstens 300 Gramm wog, schätzte sie. „Das gibt ein feines Abendessen“, sprach sie für sich hin. Ich koche Salzkartoffeln, mache mit Margarine gebräunte Zwiebeln darüber und wärme die Wurst dazu. Es wird den Kindern und mir schmecken.“

 

Später ging Barbara zu Wagners Frau, um die Tagesmilch zu holen. Die Bauersfrau kippte gerade zwei große Milchkannen zum Lüften über den hölzernen Gartenzaun. In einem geringen Respektabstand hingen die grob geflickten Männerhosen und dicken, grau-filzigen Männersocken zum Trocknen, und wenig weiter war ein weiß emaillierter Nachttopf aufgestülpt. Gerade trieb der Karl ein Schwein zur Gemeindewaage. Das war den Bauern im Krieg auferlegt, damit das Gewicht auf die Personenzahl und das Jahr verrechnet wurde. Der Nachbar von gegenüber machte das Küchenfenster auf: „Karl“, rief er, „du Schlauberger treibst die kleine Sau zur Waage und die große schlachtest du.“ „Halt’s Maul“, gab der Karl zurück, auf so kriegsverbrecherische Gedanken kann nur einer wie du kommen.“ Dabei blinzelten sie sich verständnisinnig zu.    

 

13. Fortsetzung

 

Barbara, die das mitgehört hatte, schaltete sich ein: „Wenn die Amis kommen, fällt alles unter die Amnestie.“ In diesem Moment kam der Ortsbauernführer um die Ecke auf dem Weg zur Waage, um das Gewicht amtlich zu bestätigen. „Vorsicht, Leute! Mit Miesmachern können wir den Krieg nicht gewinnen. Und das wollen wir doch alle.“ „Klar“, sagte Barbara, „aber auch ein baldiges Ende.“ „Als Frau, die ihren Mann an der Front hat, kann ich Sie ja verstehen, Frau Kolb“, gab der Bauernführer zu. „Doch ein getreuer Gefolgsmann des Führers sieht das von einer höheren Warte, nämlich das Ganze und nicht Einzelschicksale.“ In diesem Moment winkte Minchen die junge Frau heran: „Morgen Abend kommen Sie mit den Buben zur Metzelsuppe.“ „Und nächste Woche bekomme ich mein Bucheckernöl“, dachte Barbara erfreut, als sie zu Hause die Milchkanne auf den Tisch stellte. Dabei hatte sie das Gefühl, dass gesegnete Zeiten für die entbehrungsgewohnte Familie angebrochen seien. Dann schwelgte sie noch in der Überlegung, was sie von den Wagners außer der Einladung noch an Essbarem bekommen könnte. Natürlich Wurstsuppe für einige Mahlzeiten, ein Leber- und ein Blutwürstchen und vielleicht ein Töpfchen mit Schmalz. Das wäre dann der Lohn für die Hilfe eines Jahres. Nicht gerade üppig, aber sie war zufrieden. Das Weizenmehl vom Ährenlesen war noch nicht angebrochen. Wenn erst das Öl im Haus war, konnte sie Bratkartoffeln und Pfannkuchen essen. Und zu Weihnachten würde es Kreppel geben! „So glücklich kann es machen, wenn man für die immer hungrige Gesellschaft mal etwas fast Unbekanntes auf den Tisch bringen kann“, dachte Barbara.

 

Am Nachmittag des 24. Dezember war die Mutter mit ihren Kindern auf dem Heimweg von einem Weihnachtsgottesdienst in einem entfernten Ort. Es dämmerte schon leicht, als sie durch den Staatswald gingen, an dessen Wegrand die schönsten Christbäume standen, die man sich eben denken kann. Rainer und Florian sprangen in Erwartung der Bescherung um die Mutter herum. Bald lief der Kleine ungeduldig weit voraus und verschwand hinter einer Wegbiegung. Plötzlich hörten sie einen Angstschrei. Gleich danach rannte ein Mann mit einer Axt in der Hand an ihnen vorbei. Aufgeschreckt liefen Mutter und Bruder vorwärts. Da lag mitten auf dem Weg ein abgehackter Tannenbaum und darunter weinend und zerkratzt der kleine Florian. „Mami“, schrie er, „ich bin dem Weihnachtsmann begegnet. Er ist so schnell gelaufen, weil er noch zu den vielen Kindern musste, dabei hat er mich umgeworfen. Aber den Christbaum hat er mir gelassen.“ Im Begriff, den Kleinen wieder auf die Füße zu stellen, flitze noch ein Mann um die Ecke. Mit einem flüchtigen Blick auf die ihm bekannte Familie und den Baum rief er im Weiterlaufen: „Nun ist mir der Spitzbub doch durch die Lappen gegangen.“ Dieses Mal war es der Förster, der den Christbaumdieb beinahe erwischt hätte.

  • (Der Kirchgang im entfernten Dorf: In Seelenberg oder Schmitten. Weil Berlingers katholisch waren, musste sich die Familie ins Dorf einfügen, wenn sie zur Dorfgemeinschaft dazugehören wollte. Das gelang auch.)

 

Tagebuch, Ende Dezember 1943

Wir haben diese Kriegsweihnacht friedlich miteinander begangen. Leider war die Familie noch immer nicht komplett. Der Vater hatte uns nur einen großen Brief geschrieben, ein Lebenszeichen, das beruhigte.

 

Der Bürgermeister war zwischen den Jahren im Haus. Er brachte einen Bericht fürs Landratsamt, den ich für ihn schreiben sollte. Es schien mir, dass es für ihn ein willkommener Anlass zu einem Besuch war. „Ich habe ein Weihnachtsgedicht für Sie gemacht!“ Damit reichte er mir ein Blatt, beschrieben mit seiner ungelenken Schrift.

Halblaut las ich den Text:

„Waldweihnacht.

Einmal möchte’ ich den Traum mir erfüllen, Weihnachten feiern im Wald.

Nachmittags würd’ es zu schneien beginnen, die Luft wäre rein und kalt.

Die Futterraufe im einsamen Forst steckt’ ich voll mit duftendem Heu

Als Festgeschenk und entfernte mich schnell, denn Rehe sind so scheu.

Im Tannenwald, in der Dämmerung suchte ich den schönsten Baum,

setzte bunte Weihnachtskerzen auf , flackernd im stillen Raum.

Es wär’ eine Weihestunde, die im Trubel zu Haus nicht gedeiht,

noch in flittergeschmückter Kirche in dieser besinnlichen Zeit.

 

Welch ein schönes Weihnachtsgeschenk“, habe ich dem romantischen Mann gedankt. Schade um Ihr verlorenes Talent.“ Er war offensichtlich beglückt über mein Lob. „Ich dachte mir, ehe ich es in einer Schublade verschließe, wie Manches von all den Jahren, wollte ich es Ihnen widmen. Denn wenn die poetischen Ergüsse niemals das Licht der Welt erblicken, ist man traurig. Mit der Überreichung an Sie ist es beinahe eine Veröffentlichung, wobei ich allerdings Glück mit einer milden Kritik habe. Muss ich mich schämen, wenn ich gestehe, dass ich ein wenig stolz bin? Jetzt muss ich heim an den Schreibtisch.“ Damit verabschiedete er sich schnell. „Der Jahresbericht für die Gemeindevertreter muss noch ausgearbeitet werden. Kommen Sie gut ins neue Jahr, Frau Kolb.“

 

                                                                       *

 

Ich schaue durch das kleine bleiverglaste Wohnzimmerfenster über die verschneite Landschaft. Die Wiesen und Äcker des Lärchenbergs bis hin zum Waldrand hat der Schnee in eine weiße Einheit ohne Unterbrechung verwandelt. Die Kinder des Dorfes tummeln sich dort mit Rodelschlitten und Skiern. Ich erkenne sie in der Entfernung nur als dunkle, bewegliche Punkte. Auch meine Rangen sind dabei, die kleinsten Punkte, das müssen sie sein. Noch dauern die Weihnachtsferien an. Rainer, der Älteste, hat zu Weihnachten die heiß ersehnten Ski bekommen, seine ersten. (Skier gab es damals nur für Soldaten – wie mögen die wohl besorgt worden sein? Vielleicht über Lagerbestände des Geschäfts? Vielleicht über die später von Frau Berlinger erwähnten Soldaten?) Florian bekam einen Schlitten. Beides war handgemacht von einem Universal-Schreiner im Nachbarort. Es war auch danach. Doch Kinderaugen blicken in diesem Alter noch nicht so kritisch auf Wert und Zweckmäßigkeit. Ich bin keine ängstliche Mutter, sie sollen unverzärtelt aufwachsen und ihre kleinen Mutproben machen. Nur vor möglichen Gefahren warne ich sie. Jetzt ist ein kleiner, abwärts sich bewegender Punkt im Weiß verschwunden. Indem ich den Atem anhalte warte ich, bis er wieder erscheint. Der Schnee kann an dieser Stelle durch Verwehungen Meter hoch liegen. Endlich kriecht ein dunkles Etwas aus der weißen Fläche. Den Umrissen nach muss es der Kleine mit seinem Schlitten sein. Er ist waghalsiger als sein älterer Bruder. Der überlegt schon mehr bei seinen Unternehmungen. Wehleidig sind aber beide nicht und können schon mal einen Puff vertragen, ohne gleich zu greinen. Wenn die Kinder heimkommen, mit roten Backen von der Kälte, werden sie hungrig wie Wölfe sein. Was bringe ich denn auf den Tisch? Nun, zunächst eine Milchsuppe, dann Pellkartoffel mit Rahmsoße und zum Nachtisch mache ich ein Glas Heidelbeeren auf. An Milch habe ich jetzt keine Not mehr. Täglich darf ich mir bei Minchen einige Liter Vollmilch holen. Das geht über die zugeteilte Milch hinaus und bedeutet – trotz der Bezahlung – ein bescheidenes  Entgelt für meine Hilfe in der Landwirtschaft.

 

Immer, wenn trübe Gedanken mich überfallen, gibt der Gedanke an meine Kinder mir Mut und Kraft. Auch im moralischen Sinne. Denn als Ehefrau bin ich enttäuscht. Stände ich allein, könnte es die Voraussetzung dafür sein, dass ich meinen Mann aufgäbe, wenn ein anderer mir begegnete, der in etwa meinen Vorstellungen entspricht. Doch solche Überlegungen verdränge ich als sündhaft, solange mein Mann in Gefahr ist. Noch stehe ich zu ihm. Viel kritischer müsste es auch geprüft werden als bei meiner ersten Begegnung mit dem männlichen Geschlecht. Wie gutgläubig war ich damals in meiner Verliebtheit! Alles könnte von mir aus noch heute so sein, wenn die nüchtern realistische Einstellung meines Partners mich nicht aus den Wolken der Verzückung gerissen hätte. Solche Gefühle werden natürlich im Alltag mehr oder weniger abgebaut. Doch mein Lebensgefährte hat mit unwahrscheinlicher Präzision eheliche Gemeinschaft und beruflichen und familiären Alltag getrennt, übergangslos. Das waren für ihn zweierlei Stiefel. Für mich nicht. Vorläufig stehe ich zu meinem Vorsatz der Treue, was meinen Lebensgefährten betrifft. Er schwebt in Gefahr und braucht die Gewissheit, dass sein Familienleben intakt ist. Das wird ihm die Anforderungen und Entbehrungen des Soldatenlebens erleichtern. Und immer wieder muss ich beglückt gestehen, dass es meine Kinder sind, die mich moralisch so stärken. Wie nötig brauche ich diesen Halt. Ich bin noch jung und erwarte etwas vom Leben. Nicht nur als Idealistin, auch als Frau.

 

Papier ist geduldig und dieses Buch verschwiegen. Sein nüchternes Äußere passt nicht zu dem ihm Anvertrauten. Es ist eine Geschäftsjournal mit Rubriken und Titeln, noch vorrätig aus unserem Geschäft. Etwas Anderes war als Tagebuch nicht greifbar. Wie gut hat mir diese Aussprache wieder

getan in meiner Einsamkeit.

 

14. Fortsetzung

 

Im letzten Kriegsjahr kamen häufig Einquartierungen deutscher Soldaten in die abgelegenen Taunusdörfer. Es waren Formationen, die zu anderen Fronten verschoben wurden und später auf dem Rückzug waren. Manche blieben, von kurzer Rast abgesehen, Tage, Wochen oder länger. Als der Vater unangemeldet zu einem Kurzurlaub kam, bemerkte er es mit Befremden und finsterer Miene. Die Einquartierung war aber unvermeidbar und zwangsweise, gegen die man nichts  unternehmen konnte. Kein Haus blieb verschont. Zeitweise hatte Barbara drei bis vier Mann unterzubringen.

 

Allgemein versuchten beide Parteien das Beste aus der Situation zu machen. Die Zivilisten hatten Mitleid mit den abgekämpften Soldaten, die wiederum waren dankbar für ein Nachtlager, einen warmen Platz in der Stube, ein gekochtes Essen, wozu sie ihre Rationen beisteuerten. Die meisten hatten den Kontakt mit ihren Angehörigen schon verloren, wie auch Barbaras Mann. Sie hatte keine Ahnung, ob er noch an der Front in einem anderen Land steckte oder vielleicht in Deutschland zu einer anderen Einheit gekommen war, die wiederum an einen anderen Kriegsschauplatz verschoben wurde, wo Lücken zu schließen waren. Jeder anständige Deutsche half gern den durchgeschleusten, müden, vor allem kriegsmüden Soldaten in der Hoffnung, dass auch den eigenen Angehörigen, die schon zu lange die feldgraue Uniform trugen, irgendwo im Privatquartier etwas Gutes getan werde.

 

                                                                                  *

 

In dieser Zeit war die Feldpostzustellung schon zusammengebrochen. Es kam kaum noch eine Nachricht an. Alle Briefe aus der Heimat und von der Front durchliefen eine umständliche Zensur und erreichten den Empfänger verspätet oder überhaupt nicht. Andere Post ging in den turbulenten letzten Kriegsmonaten verloren.

 

Hubert Klett war dankbar für den Familienanschluss, den er bei der Familie Kolb gefunden hatte. Er war Rechtsanwalt aus einer süddeutschen Großstadt, ein fröhlicher, unkomplizierter Mensch. Manchmal brachte er den Buben kleine Geschenke, Dinge, die nicht mehr zu kaufen waren, aber für Männer im Spionageeinsatz im Ausland zum Marschgepäck gehörten, um gewisse Erfolge bei ihrer Tätigkeit zu haben. Auch für die gemeinsamen Mahlzeiten steuerte die Einquartierung laufend bei: Etwas Brot, Fett, Butter, Kaffee, Fleischkonserven.

 

Doch die Idylle wurde meist bald gestört durch das dumpfe Brummen feindlicher Fliegerverbände. Dann prüfte man die Verdunkelungsvorhänge auf dichtes Abschließen und horchte besorgt auf die näher kommenden Flugzeuggeräusche aus der Dunkelheit. Nachdem die Mutter die Kinder zu Bett gebracht hatte, hörten die Erwachsenen das Neueste von den Kriegsschauplätzen – aus London. Im Übrigen war es ein unverantwortliches Wagnis, Auslandssender zu hören, denn die Parteiorgane ahndeten es als Kriegsverbrechen. So manchen Abend lauschten die beiden Verbündeten, das Ohr dicht am Apparat, der kaum hörbar eingestellt war. Es waren Berichte über die hoffnungslose Lage Deutschlands an allen Fronten. In die Sorge mischte sich die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Denn die Würfel waren gefallen, der Krieg verloren. Doch die Wirklichkeit, als alles vorüber war, erwies sich als traurige Hoffnungslosigkeit.

 

Beim leisen Abhören der Auslandsnachrichten ergab es sich durch das enge Zusammenrücken, dass Klett plötzlich Barbaras Hand ergriff und mit seiner warmen, kräftigen Männerhand fest umschloss. Barbara ließ es geschehen ohne zunächst etwas mehr zu empfinden als eine Schicksalsverbundenheit. Doch als er die Hand nicht mehr losließ, durchrieselte sie eine Geborgenheit neben diesem Fremden, die sie kaum jemals erlebt hatte. Erst als Klett den Arm um ihre Schulter legte, wurde die Situation eindeutig. Die Frau spannte sich in Abwehr, die er sofort spürte. Dann begann der Mann zu sprechen von seiner Familie, die er lange nicht gesehen hatte. Er fragte: „Können Sie verstehen, dass ein verwilderter Soldat, Jahre lang zigeunerhaft umhergezogen, ausgehungert nach etwas Zärtlichkeit, dicht an der Seite einer liebenswerten Frau plötzlich die Kontrolle über sich verliert?“ „Ich darf und will das nicht verstehen“, sprach die Frau leise. „Meine Ehe ist intakt, und ich lebe nur für meine Kinder. Ich bin zufrieden, wie man es in diesen Zeiten eben sein kann, und ich möchte diesen Frieden nicht gefährden.“ Er deutete an, dass sie vielleicht eine Ausrede vorschieben wolle. Bei dem kurzen Besuch ihres Mannes sei eher eine Disharmonie zwischen den Eheleuten fühlbar gewesen. Unbegründete Eifersucht seitens Barbaras Mann könnte allerdings auch eine Rolle gespielt haben., verständlicherweise. Es folgte ein langes Gespräch an diesem Abend, in welchem Mann und Frau Bilanz machten über die eheliche Vergangenheit. Dabei stellte sich heraus, dass beide nicht immer glücklich mit dem Partner gewesen waren. Abschließend aber kamen sie überein, dass kein Mensch ohne Fehler ist und sie selbst wahrscheinlich auch Schuld gehabt haben könnten. Hubert Klett drückte sich unzweideutig aus: „Es würde mein Gewissen nicht belasten, wenn wir die Gunst der Stunde nutzten. Jeder Tag dieses schrecklichen Krieges kann für uns und die Unsrigen schwer wiegende Veränderungen, ja Vernichtung bringen. Ich finde es entschuldbar, zuzugreifen und aus der zufälligen Begegnung mit einem sympathischen Menschen ein wenig Glück und Kraft zum Weitermachen zu schöpfen. Das Schicksal – um dieses strapazierte Wort zu beschwören – könnte es fügen, dass aus diesem Zufall mehr wird, wir in Verbindung bleiben und – vielleicht –“

 

„Es wäre vermessen, in eine graue Zukunft zu orakeln“, erhielt er zur Antwort. Aber Barbara war auch skeptisch. Schließlich war sie ein gebranntes Kind, was die Partnerschaft mit einem Mann betraf. Die Voraussetzungen, unter welchen sie geheiratet hatte, erfüllten sich nicht annähernd. In ihren augenblicklichen Überlegungen war sie fest entschlossen, nicht noch einmal eine vorschnelle Bindung einzugehen, falls ihre Ehe zerbrechen sollte. Als selbstständige Frau würde sie ihr Leben allein gestalten und zunächst nach den Kindern ausrichten.

 

Trotz des statt  gefundenen Gesprächs nahm der Mann Barbara impulsiv in die Arme. Für Sekunden nur erbebten sie entrückt in glückseliger Zweisamkeit. Dann sprang Klett auf: „Du brauchst deine Türe nicht abzuschließen. Ich respektiere deine Entscheidung. Sicher bewirkt deine charakterfeste Persönlichkeit, dass mir resignierende Bewunderung genügt. Außerdem liegt mir die Rolle des abenteuerlichen Schwerenöters nicht.“ Wie jeden Abend, seit er unter ihrem Dach lebte, gaben sie sich zur „Guten Nacht“ nur die Hand.

 

Es wurde an den nächsten Tagen nicht mehr über das Thema gesprochen. Die Beziehungen blieben freundlich und unbelastet von dem Zwischenfall. Wie ein guter Onkel nahm Klett weiterhin die Buben auf den Schoß, brachte ihnen kleine Geschenke mit, die Kinderherzen erfreuen und die allgemein nicht mehr zugängig waren. Abends, nach Dienstschluss, saß man zusammen bei der Mahlzeit. Manchmal tranken sie eine Flasche Wein, die der Lagerverwalter organisiert hatte. Weiterhin wurde der Londoner Sender abgehört, anschließend der Abend in angeregter Unterhaltung verbracht.

 

An einem Tag aber kam der gute Freund der Familie ungewohnt am frühen Nachmittag vom Dienst zurück. „Ich muss sofort packen“, sagte er aufgeregt, „wir rücken heute noch ab.“ Zum Abschied hatte er eine Flasche Sekt mitgebracht. Als er sie öffnete, zitterten seine Hände, so dass sich ein Teil des Inhalts über die Abschied Nehmenden ergoss. Doch zum Anstoßen reichte es noch. In den sektbesprühten Gesichtern sah man wenigstens nicht die Tränen der Rührung auf beiden Seiten. Viel später erst begriff Barbara, welch nützliche Lektion ihr mit dieser Begegnung erteilt worden war.

 

Rainer und Florian gingen öfter ins Forsthaus, um mit den Freunden zu spielen. Damit hatten sie endlich einen passenden Umgang gefunden. Die Mutter begrüßte es. Selbst der naive Florian, der jüngste von den Vieren, wurde toleriert, wenn auch manchmal in seiner Gutgläubigkeit beschwindelt und ausgelacht.

 

Die Förstersöhne erzählten, dass die Sauen großen Schaden in ihrem Kartoffelacker angerichtet hatten und dass auch die Hirsche teilweise mitgeholfen hätten. Am Abend würde der Vater ein Feuer auf dem Acker entzünden, was die Schwarzröcke abhalte, einzudringen. Den Brandgeruch scheuten sie. „Vater könnte die Wildsauen einfach abknallen, wenn er nachts auf den Anstand geht. Gegenüber allem anderen Wild sind sie das ganze Jahr jagdbar. Da gibt es keine Schonzeit. Aber ein Wildheger wie unser Vater tut das nicht, außer ganz gelegentlich. Er gewährt auch diesen Schädlingen eine gewisse Schonung. Der Jagdpächter muss uns natürlich den Schaden ersetzen, den wir auf dem Kartoffelacker haben.“ So erklärte es Dietrich, der Älteste vom Förster. Rainer wollte wissen, ob die in der Dunkelheit erscheinenden Hirsche oberhalb der Koppel aus dem Quellbach tränken. „Da kann ich nur lachen“, klärte sein Freund ihn auf, „Hirsche trinken nicht, sie schöpfen.“

 

„Komischer Ausdruck“, meinte Rainer, „noch nie gehört.“ Nun gab Dietrich eine kleine Lektion: „Hirsche äugen, die Augen sind die Seher, die Nase heißt Winder, der Mund Äser, die Ohren sind die Lauscher, die Beine die Läufe, die Klauen die Schalen und der Schwanz ist der Wedel.“ „Beschwindelst du uns auch nicht? fragten die Stadtbuben. „Könnt ja meinen Vater fragen, „hab es ja von ihm gelernt. Beim Wild ist es anders als bei den Haustieren.“ „Wann bekommen die Hirsche Junge und wie sehen sie aus“, wollte der Kleine noch wissen. „Das kann euch der Christof sagen, der weiß das auch“, animierte er den jüngeren Bruder. „Anfang Juni wirft die Hirschkuh ab“, sagte der, und wieder mussten die Städter über diesen Ausdruck lachen. „Sie trägt vierzig Wochen“, wusste er schon, wobei das „Tragen“ schon wieder erklärt werden musste. Dann fügte er an: „Damit ihr mit eurer blöden Fragerei endlich aufhört, sage ich euch noch das Letzte, das ihr sicher wissen wollt: Die Jungen sind weiß gefleckt, und es sind eines oder zwei. Ich habe Hunger“, erklärte er dann, und hole mir bei der Mutter ein Stück Brot.“

 

Nachdem er im Haus verschwunden war, machte die Försterfrau das Fenster auf und rief: „Hat noch jemand Hunger, dann brauche ich nicht zweimal anzufangen.“ „Ich, Mama“, schrie Dietrich. „Und wie steht es mit euch Kleinen?“ wollte Frau Faust wissen. Rainer boxte seinen kleinen Bruder in die Rippen, als er gerade den Mund aufmachen wollte, „du sagst nichts.“ Traurig ließ dieser den Kopf hängen, als sein Bruder artig antwortete: „Danke, Frau Faust, wir essen zu Hause.“ „Kommt sofort mal rein“, rief da die Försterin, denn sie wusste Bescheid. Setzt euch hier an den Küchentisch. Von eurer Mutter weiß ich, dass ihr immer Hunger habt.“ Dann holte sie vier Vesperbrettchen, schnitt lange Scheiben von dem runden Bauernbrot ab, bestrich sie mit Butter und fragte: „Es gibt geräucherte Blut- und Leberwurst. Was soll ich abschneiden?“ „Halb und halb“, forderten die Försterbuben, „und den beiden auch.“ Florian nickte heftig Zustimmung. Aber sein Bruder sagte gar nichts, denn er fürchtete die Vorwürfe der Mutter. Die Försterfrau schnitt den Kindern Stücke von der harten Wurst ab, entfernte die Haut und sagte: „Nehmt sie zum Butterbrot in die Hand, sie ist zu trocken.“ Dann bekam jeder noch eine Tasse frische Buttermilch für den Durst, und die Stadtbuben trollten sich heimwärts.

 

                                                                                  *

 

In diesen Tagen kam Rainer einmal mit verweintem Gesicht aus der Schule. Aber er schwieg trotzig auf die Fragen der Mutter. „Soll ich den Lehrer fragen?“, drang sie schließlich in ihn. „Der kommt vielleicht heute Abend, hat er gesagt, weil er mit dir sprechen muss.“ Tatsächlich kam der Lehrer am Abend. Barbara schickte die Buben ins Bett und lud ihn zu einem Glas Apfelwein ein. Der Wagner hatte ein kleines Fass für sie mit gekeltert.

 

15. Fortsetzung

 

„Der Rainer ist ein sensibler Bub“, begann der Schulmeister sofort. „Heute habe ich ein Aufsatzthema nach freier Wahl gegeben, das heißt, die Kinder sollten mit der Mehrheit das Thema entscheiden. Was kam dabei heraus? Sie wollten schreiben, wie das Schwein geschlachtet wird.“ „Schrecklich“, sagte Barbara und sah besorgt in das rotgeäderte Fuchsgesicht des Lehrers. „Da hat mein Rainer wohl die Nerven verloren“, vermutete die Mutter. „Die Buben haben ihn gehänselt: ‚Isst doch auch gern Wurst auf dem Brot, du Feigling. Wie stellst du dir denn vor, wo die herkommt?’ Ich finde, dass diese Äußerung vernünftig war“, gab der Lehrer den Bauernkindern recht. „Also“, fuhr der Lehrer dann fort, „er begann zu greinen und sagte: ‚Das schreibe ich nicht, ich will es nicht wissen und werde auch nie zusehen, wenn ein Schwein geschlachtet wird.’ Dagegen kann ich nichts unternehmen, der Bub ist nicht vom Dorf, sonst wäre ihm die Sache so selbstverständlich wie den Kindern der Bauern. Im Übrigen ist er der Intelligenteste und wird studieren können. Aber ich warne Sie, Frau Kolb, den Jungen nicht zum Außenseiter werden zu lassen, sonst muss er es von den groben Flegeln vielleicht hart büßen.“ „Die Zeit auf dem Land wird begrenzt sein, es sieht ganz danach aus, als wäre sie bald vorüber“, bemerkte die Frau knapp.

 

  • (Der Lehrer war Herr Knapp. Dessen Frau war seit den Wechseljahren "nicht ganz richtig im Kopf ". Sie behauptete immerzu, sie wolle „dem Führer ein Kind schenken“, was ihr wahrscheinlich das Leben rettete. Herr Knapp verzweifelte fast, weil sie ihm öfter ausbüchste. Seinen Lebensabend beschloss er in Dauborn, wo er seine Frau bis zu ihrem Tode versorgte und pflegte. Seine Ehrfurcht vor dem Leben könnte ein Grund für Frau Berlingers ablehnende Haltung gewesen sein. Sie hatte schließlich ihr eigenes Kind den Nazi-Schergen ausgeliefert.)

 

Dann sprach der Lehrer sehr offen über seine Probleme, dass er Parteimitglied sei, sich der Altersgrenze nähere, so dass er durch eine nicht übersehbare politische Entwicklung möglicherweise vorzeitig abtreten müsse. „Die jungen Lehrer sind an der Front und kein Nachwuchs für den Unterricht greifbar. Das bedrückt natürlich einen alten Erzieher.“ Dann berichtete er von Bestrebungen, bei Lehrermangel geeignete Privatpersonen für den Schulunterricht vorübergehend einzusetzen. „Ich habe dabei an Sie, Frau Kolb, gedacht. Sie würden das schon machen. Beim Schulrat will ich es gern unterstützen.“ Barbara seufzte: „Was soll ich noch alles tun! Sie wissen selbst, dass ich die schriftlichen arbeiten für die Gemeinde mache, die Molkereimilch an die Flüchtlinge ausgebe und so manches Andere. Manche Bauern schwitzen, wenn sie einen Brief zu schreiben haben, lieber hacken sie ein paar Stunden Holz. Dann tue ich es eben für sie. Daneben gehe ich den ganzen Sommer mit ins Feld und habe doch auch meinen eigenen Garten und den Haushalt. Nun, wir werden sehen.“  Dann sprach der Lehrer über die schlechten Zeiten, dass die Bauern nichts herausrückten und er sich daher ab und zu einen Dachs fange, um Fleisch und Fett im Haus zu haben. Barbara fragte erstaunt, ob das denn essbar sei, sie denke dabei an Fuchs oder Ähnliches. „Der Dachs ist zunächst ein Pflanzenfresser, verschmäht aber auch Würmer und Schnecken nicht. Das Fleisch schmeckt allerdings nicht wie ein Rehbraten. Man muss es schmackhaft zurechtmachen. Das versteht meine Frau gut. Das Fett brät sie mit Äpfeln und Zwiebeln aus. – Wenn ich schon von meiner Frau spreche“, fuhr der Lehrer fort, „so haben Sie sicher schon gehört, dass sie krank ist, in einem Maße, dass sie eigentlich in eine psychiatrische Klinik gehörte. Aber das wäre ihr Todesurteil nach dem neuen Euthanasiegesetz. So ertrage ich ihre Verrücktheit, was nicht immer leicht ist. Sie ist doch meine Lebensgefährtin, und was für eine tüchtige und gute Frau war sie.“

 

Barbara schwieg taktvoll und bedauerte im Stillen den armen Mann. So Manches hatten die Tratschbasen des Ortes schon verbreitet. So wusste sie, dass die Lehrersfrau während des Unterrichtes in die Klasse gekommen war und ihn grundlos ohrfeigte. Frauen, die sich unter ihrem Fenster etwas erzählten, hatte sie mit Wasser übergossen. Stets trug sie ein Führerbild im Ausschnitt und zog es ungeniert bei jeder Gelegenheit heraus, um es verzückt zu betrachten. Sie hatte auch schon mal versucht, Hitler in Berlin zu besuchen. Unterwegs hatte man sie aufgegriffen und mit der Rettungswache wieder nach Hause gebracht. Es war ein trauriges Kapitel.

 

Der Lehrer hatte es an diesem Abend gar nicht eilig, wieder nach Hause zu kommen. Er lobte den Apfelwein, von dem ihm Barbara nachgoss. „In meiner Heimat, dem ‚Goldenen Grund’, brennt man einen kräftigen Kornschnaps. Den habe ich als Universalheil- und Genussmittel immer im Haus. Ich bringe Ihnen gelegentlich ein kleines Fläschchen Dauborner vorbei“, sprach der Lehrer. „Danke, behalten Sie es doch für sich“, bat Barbara, „wo Sie selbst auch Not leiden in dieser Zeit. Für meine Person mache ich mir nichts aus diesen scharfen Sachen. Aber für ältere Leute wie Sie und Ihre Frau kann es gewiss manchmal Medizin sein.“

 

Als Barbara eines Tages im Tannenwald einen Korb voll trockener Tannenzapfen aufgelesen hatte, lehnte sie ausruhend am Stamm, um die Stille und den würzigen Duft zu genießen. Die Fichten hatten jetzt im März schon die neuen Sprossen ausgetrieben. Plötzlich stand, wie aus dem Boden gewachsen, der Förster in ihrem Blickfeld. Seine Schritte waren auf dem weichen, benadelten Pfad unhörbar geblieben. Die grüne Uniform hob sich kaum von den Bäumen ab. „Hallo“, rief er aus der kleinen Entfernung, „was haben Sie gerade gedacht?“ „Etwas indiskrete Frage“, gab die Frau zurück, aber nichts, was ich verschweigen müsste. Ich habe das wohltuende Isolierungsgefühl des Nadelwaldes empfunden.“ Sie setzten sich an der kleinen Böschung des Waldwegs nieder und schwiegen Zeit und Raum vergessend. Der Förster unterbrach das Schweigen: „Wir sind hier sehr allein. Gefährlich allein, bei der Vorstellung, wenn wir nun jünger und ungebunden wären. Wieder fällt mir Löns ein, von dem wir gesprochen haben. Wenn dem ein Mädchen wie Sie gefiel, griff er zu ohne zu fragen, bediente sich der Freiheit des Künstlers, die er für die Inspiration beanspruchte.“ „Bei aller Verehrung – bei mir hätte er sich eine saftige Ohrfeige eingehandelt.“ Barbara sah bei diesen Worten sehr entschlossen aus. „Glaub’s gern, dass Sie sich nicht so einfach nehmen lassen. Ihr Mann hat Glück gehabt. Wie eine Sphinx wirken Sie mit den unergründlichen Augen, anziehend und abweisend gleichzeitig.“ „Sie sehen mich komplizierter, als ich wirklich bin“, stellte die Frau richtig. Trotzdem – um es mit Tennessee Williams zu sagen: „Niemand lernt jemals jemanden kennen. Wir sind alle zu lebenslänglicher Einzelhaft in unserer Haut verurteilt.“ Der Forstmann erzählte Barbara alsdann, dass mit dem letzten Flüchtlingstransport ein junger katholischer Pfarrer aus dem Egerland gekommen sei, so dass die Katholiken in den umliegenden Dörfern des Hochtaunus einen Priester bekämen. In der evangelischen Kirche des Nachbarortes dürfe er Gottesdienste abhalten. Die meisten Flüchtlinge aus dem Sudetengau seien auch katholischen Glaubens. „Dann können meine Buben vielleicht bald zur Erstkommunion gehen“, freute sich Barbara. „Unser Christoph ist auch noch nicht gegangen und schon zwölf Jahre alt“, erwiderte der Förster.

  • (Es hat sich wahrscheinlich um Pfarrer Jung gehandelt.)

„Wie geht es Ihrer Frau?“ fragte Barbara. „Sie ist in letzter Zeit etwas anfällig.“ Besorgt sprach es der Förster. „Wegen Schmerzen im Kreuz waren wir zum Röntgen. Dabei stellte sich heraus, dass sie einen großen Nierenstein hat. Die Ärzte raten zur Operation. Wir sind vorsichtig und wollen es noch überlegen. Ein Risiko ist immer drin. Meine tapfere Margret leidet auch unter den Beschwerden der Wechseljahre, obwohl sie schon Mitte Fünfzig ist. Wehleidigkeit liegt ihr aber gar nicht, immer ist sie auf dem Posten. Das ist das Bauernblut. Arbeiten bis zur letzten Reserve und schnell abtreten, wenn es eines Tages nicht mehr geht. Ich bin in Sorge.“ „Ihre Frau ist wohl etwas älter als Sie“, warf Barbara taktvoll ein. „Ja, um zehn Jahre. Man könnte der Meinung sein, dass  dies kein normaler Altersunterschied ist, ich wollte sagen, wenn die Frau um so viel älter ist. Doch wir führen eine gute Ehe.“ Dann erzählte Herrmann Faust: „Ich habe die Mutter früh verloren und sehr vermisst. Mein Vater war auch Förster, ein harter, verschlossener Mensch, der mit einem Kind nichts anzufangen wusste. Die Haushälterinnen wechselten häufig, teils, weil es ihnen zu abgelegen war, so wie wir damals wohnten, teils weil sich ihre Hoffnungen zerschlugen, meine Stiefmutter zu werden. Ich wurde versorgt, aber Nestwärme lernte ich niemals kennen. Als ich mein Examen gemacht hatte, erhielt ich die hiesige Revierförsterstelle. Ich brauchte eine Hausfrau. Aber nicht nur das.

 

16. Fortsetzung

 

Es sollte eine Frau nach meinem Herzen sein. Einige flüchtige Liebschaften gab es. Eine, die ich verehrte, lachte mich aus, als ich sie fragte, ob sie meine Försterin werden wolle. ‚Lebendig begraben, auf einem einsamen Forsthaus, so kann ich mir meine Ehe nicht vorstellen. Ich brauch Leben um mich, Betrieb und Menschen. In dieser Abgeschiedenheit würde ich unter ständiger Angst stehen, wenn ich allein im Haus sein müsste.’ So erging es mir in diesem Fall bei meiner Werbung. Von der Forstschule aus kannte ich die Familie eines Kameraden, bei der ich einige Male eingeladen war. Die älteste Schwester des jungen Mannes war ein unscheinbares, aber herzliches Mädchen. Ihr Verlobter, ein Bauer, war beim Holzabfahren umgekommen, als die Pferde, von einem Wespenschwarm überfallen, durchgingen. Ganz nebenbei fragte ich sie einmal: ‚Sie möchten wohl auch nicht als Förstersfrau leben?’ ‚Warum nicht? Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Es zieht mich nicht in die Stadt.’ So fing es mit uns beiden an“, erzählte Faust weiter, „es war keine himmelstürmende Liebe, eher eine kameradschaftliche, die auf Grund der Umstände, die in unserer Person lagen, eine mütterliche wurde. Die mutterlose Kindheit hatte bei mir einen Komplex entwickelt, den die gütige Geborgenheit, die ich bei dieser warmherzigen Frau fand, auflöste.“ „So sind Sie also ein zufriedener Ehemann geworden“, stellte Barbara fest. „Das kann man sagen“, bestätigte Faust. „Doch es gab gelegentlich Versuchungen, wenn ich einer jüngeren, hübscheren begegnete, die im Alter besser zu mir passte, sehr jung und begehrenswert war.“ Barbara sagte: „Man kann nicht alles haben. Sie haben viel an Ihrer guten, tüchtigen Frau, dazu die prächtigen Buben, die sie Ihnen geschenkt hat.“ „Sie sehen es absolut richtig, Frau Kolb, ich schätze, was ich habe. Einen wertvolleren Menschen, wie meine Frau, hätte ich kaum gefunden, und ich würde sie um keinen Preis aufgeben.“ Trotz dieses überzeugenden Wechselgesprächs spürte Barbara mit weiblichem Instinkt, dass sie diesem, zur Leidenschaftslosigkeit verurteilten, kraftvollen Mann nicht gleichgültig war. Und es erregte sie auf beunruhigende Weise. „Ich könnte ihn lieben“, bekannte sie in ihren geheimsten Gedanken vor sich selbst.

 

Tagebuch Mai 1945

Die Ereignisse überstürzen sich in den Tagen seit Ostern. Am Karfreitag zogen die amerikanischen Truppen in unserer Gegend ein. Artilleriefeuer ging in der Nacht über unser stilles Dorf hinweg, ehe Kriegsfahrzeuge und Truppentransporter vom Kriegsende überzeugten. Aus den großen Wäldern hallten Maschinengewehrsalven und Einzelschüsse. Tage lang zogen die Sieger dieses schrecklichen Krieges durch die Gegend. Verängstigt saßen die Menschen in den Häusern. Manchmal polterten einzelne Soldaten grob hinein. Meinen Kindern haben sie finsteren Blickes die Kettchen mit den religiösen Amuletten vom Hals genommen und mir die Uhr vom Handgelenk. Einen Wecker, die elektrische Wanduhr, Barometer und Thermometer ließen sie mitgehen sowie Eingemachtes und Wein aus dem Keller. Aus dem Hühnerstall stahlen sie die Eier, griffen sich einige meiner laut schreienden Hühner wie die Schnapphähne im Mittelalter. Als sie draußen waren, sagte mein Ältester weinend: „Das werde ich dem Amis nie vergessen.“ Ich selbst habe auch geweint aus Angst und Empörung, obwohl ich wusste, dass noch Schlimmeres passierte und sich im Übrigen die Mehrzahl der Soldaten korrekt benahm. „Der Krieg ist eine gesetzlose Zeit“, tröstete ich mich und sinngemäß meine Kleinen, „es geht vorüber.“

 

Gestern war der Bürgermeister bei mir. ER gab mir die Bücher zurück, die er in den ruhigen Wintertagen gelesen hatte. Der „Faust“ war dabei. „Es war für mich das Buch der Bücher, ich hatte es ja vorher nur dem Namen nach gekannt.“ So bekannte es mein alter Freund. „Einzelne Stellen habe ich mir abgeschrieben und für Sie angekreuzt, ein Lesezeichen an die Stelle gelegt.“

 

Ich griff nach dem bescheiden gebundenen Reclam-Band, den ich seit meinen Mädchenjahren besitze. Groschen um Groschen habe ich mir damals zusammengespart, auf Tand und Modekram verzichtet, um mich mit der Anschaffung eines begehrten Buches zu beglücken. Die preiswerten, volkstümlichen Ausgaben des Reclam-Verlages machten es möglich.

 

Der Bürgermeister sagte mir dann, dass in den nächsten Tagen eine größere Arbeit auf uns zukäme. Es sei eine Benachrichtigung von der amerikanischen Kommandantur gekommen, dass alle erwachsenen Personen Kennkarten erhalten müssten. Dann machte Winter seinen Plan: „Wir tragen Ihre Schreibmaschine am Sonntagvormittag, wenn alle Zeit haben, in die Schule. Die Leute stellen sich auf, wie sie eintreffen, und Sie füllen die Vordrucke der Kennkarten aus und nehmen den Fingerabdruck. Dann kommen die Ausweise zum Abstempeln mit Unterschrift in die Kreisstadt und werden anschließend von mir verteilt. Vielleicht ist es meine letzte Amtshandlung“, vermutete er. „Als Parteimitglied werde ich abgelöst. Habe ja auch das Alter, werde jetzt 65.“ „Schade, wenn Sie gingen“, bedauerte ich ehrlich. „Sie sind klug und gerecht, und in der Partei waren Sie nur zwangsweise. Das weiß jeder.“ „Mag sein, aber da ist schon einer, der auf den Posten spekuliert und mir nicht gut gesonnen ist, grundlos, wie ich meine. Ein neuer Konjunkturritter.“ So folgerte der Bürgermeister in seiner ruhigen Art. Er zog ein Gedicht für mich aus der Brusttasche. Ich las es einmal und gleich noch einmal langsam, um es zu verstehen:

 

" Zeitlupenhaft zieht es vorüber,

bis unerwartet reißt der Film – das Leben endet.

Ein kleiner Hügel, eingesunken bald

und halb vergessen birgt das zerfallne Fleisch,

brüchige Knochen, die zu Staub geworden. Was bleibt?

Ein gütig Wort, dem Unverdienten gern gegeben,

ein fruchtbarer Gedanke, in fremden Hirnen niemals reifend!“

 

„Denken Sie an den Tod?“ fragte ich. “Ja, aber ich fürchte ihn nicht. Nach und nach freunde ich mich mit ihm an. Es ist der natürliche Lebensablauf, dem sich keiner entziehen kann, den Keiner verdrängen sollte. In der Jugend lebt man so in den Tag hinein, als ob es kein Ende gäbe. Doch je älter man wird, umso öfter überfallen die Gedanken an Tod und Sterben. Man macht Bilanz und ist nicht zufrieden, nimmt sich vor, die verbleibende Zeit zur Besserung zu nutzen, denn ... Ihr kennt weder den Tag noch die Stunde ... heißt es in der Bibel. Übrigens, der neue katholische Pfarrer, der jetzt im Nachbarort wohnt, hat angerufen. Möchte Sie morgen mal besuchen.“ Damit ging er.

 

Heute Nachmittag hat sich der katholische Pfarrer vorgestellt. Er brachte gleich seine Haushälterin mit. „Wissen Sie, ich bin magenkrank und brauche eine bestimmte Diät“. sagte er erklärend. Die Haushälterin, ein unscheinbares, aber aufgewecktes Wesen von undefinierbarem Alter, machte auch den Küsterdienst und ministrierte notfalls. „Das soll bald anders werden“, wandte sich der Pfarrer an Rainer und Florian. „Ihr werdet Messdiener, zusammen mit den Försterbuben.“

 

17.Fortsetzung

 

Er war mit dem Motorrad gekommen, die Haushälterin auf dem Soziussitz. Die Besatzungsbehörde hatte ihm die äußerst eingeschränkte Motorisierung zugebilligt, weil er im KZ gesessen hatte. In der Tat brauchte er es für die Betreuung von einem halben Dutzend Gemeinden. Ich überlegte krampfhaft, was ich den beiden anbieten könnte. „Hätten Sie Appetit auf ein Rhabarberkompott oder ein Glas Buttermilch?“ „Wenn Sie es entbehren können, gern beides“, nahm der Pfarrer mit einem Blick auf seine Köchin ganz natürlich an. „Ist es dir auch recht, Cilia?“, fragte er sie. Diese sagte: „Wir haben nicht viel außer Kartoffeln und Milch, da wir noch unbekannt sind. Mir fällt es schwer, bei den Bauern um etwas zu betteln. Und doch muss jeden Tag etwas auf dem Tisch sein.“ „Da geht es Ihnen wie mir. Aber ich kann Ihnen von meinem Bescheidenen gern eine Kleinigkeit abgeben“, sagte ich. Dann habe ich ihr eine Flasche mit Vollmilch gefüllt, ein Päckchen Quark eingewickelt und noch vier Eier dazugelegt. „Packen Sie es gut weg, damit es keiner sieht, sonst bekomme ich nichts mehr.. Aber nun essen Sie erst mal“, lud ich die Zögernden ein. „Vergelt’s Gott“, dankten die beiden und packten nach der einfachen Mahlzeit alles sorgfältig zwischen einen Pullover und Schal in die seitlich hängende Motorradtasche. „Die Amis haben mir einige Konserven versprochen. Wenn sie Wort halten, gebe ich Ihnen etwas ab für die freundliche Aufnahme, die Sie uns bereitet haben“, sagte der junge Priester zum Abschied.

 

                                                                                  *

 

An einem der nächsten Tage, als Barbara am frühen Vormittag in ihrem Garten arbeitete, erschreckte sie ein Pfiff aus dem nahen Wald. Hinter einer dicken Buche entdeckte sie eine Uniform. Der vorsichtig heraustretende Soldat war – ihr Mann. Sie winkte ihm aufgeregt zu, sich hinter einem Holzstoß zu verstecken. Dann lief sie zu ihm, und sie umarmten sich. „Gott sei Dank, dass du da bist“, sagte die Frau befreit. „Aber wir müssen noch vorsichtig sein. Keiner darf dich sehen. Die Amerikaner patrouillieren oft durchs Dorf und haben bekannt gegeben, dass jeder heimkehrende Soldat sich auf der Bürgermeisterei melden muss. Wer sich meldet, kommt in Gefangenschaft.“ „Ich verstecke mich eben im Haus, bis sich alles normalisiert hat“, antwortete der Heimkehrer. „Das geht nicht, Martin, es ist zu gefährlich“, warnte seine Frau. „Auf die Kinder ist noch kein Verlass, der Kleine würde es in seiner Freude bestimmt verraten.“ So beschlossen sie, dass die Kinder noch nichts von der Rückkehr des Vaters erfahren sollten. Der Strapazen gewohnte Soldat wurde auf dem Heuboden einquartiert, seine Frau brachte ihm heimlich die Mahlzeiten.

 

Das ging nun schon einige Tage so, und noch immer war die Gefahr nicht gebannt, dass jeder von der Front zurückkehrende deutsche Soldat in ein großes Sammellager im In- oder Ausland abgeschoben wurde. Martin Kolb konnte das primitive Hausen in der Scheune kaum noch ertragen. „Ich will endlich wieder mit meiner Familie zusammen sein“, flehte er seine Frau an. „Du siehst zu schwarz“, beruhigte er sie. „Der Krieg ist aus, sie können nicht alle abführen, die einzeln nach Hause gefunden haben. Brauchst mich ja nicht anzumelden.“ Barbara war verzweifelt: „Der Bürgermeister ist noch im Amt und an seine Pflichten gebunden. Ich bin seine Mitarbeiterin und darf ihn nicht hintergehen. Das Verstecken ist meine Sache. Aber dass du frei herum gehst und dich nicht meldest, kann nicht gut ausgehen.“ „Bitte geh hin und sag, mein Mann ist zurück. Er liegt schwer krank im Bett. Wenn es ihm besser geht, kommt er zur Anmeldung. Das wäre ein Kompromiss.“ Barbara ließ ihn ins Haus, er legte sich ins Bett und sagte den Kindern, dass er krank sei. Die Frau, nichts Gutes ahnend, wartete noch einige Tage, bis ihr Mann verlangte, dass sie mit dem Bürgermeister rede. Sie ging und sagte auf der Bürgermeisterei Bescheid.

 

Es ging nicht gut aus. Der Bürgermeister machte korrekterweise Meldung beim Kommandanten mit dem Hinweis, dass Kolb wegen Krankheit haftunfähig sei und außerdem kein Parteimitglied gewesen wäre. Es nutzte nichts. Nach einigen Tagen wurde Barbaras Mann in seiner Wohnung gefangen genommen. Für Monate blieb er dann verschollen, so sehr sich seine Frau bemühte, eine Spur zu finden. Es gab kein Lebenszeichen. Warum war er nicht in seinem sicheren Versteck geblieben, bis die anfänglich strengen Kontrollen eingestellt wurden! Winter war tief besorgt, dass er an dieser Entwicklung schuldig geworden war, obwohl er nicht anders handeln konnte.

 

                                                                                  *

 

Als er erfuhr, dass der amerikanische Kommandant eine Dolmetscherin suche, fragte er Barbara, ob sie sich zutraue, dies zu übernehmen. Sie war etwas unsicher, ob ihr Schulenglisch ausreiche, doch es musste etwas geschehen. Vielleicht konnte sie eine Spur des Vermissten entdecken oder sonst eine Hilfe für ihren verschwundenen Mann erwirken. Sie sagte zu, und es war nicht allzu schwer, die Anliegen der zahlreichen deutschen Besucher dem Leiter des provisorischen Kreis-Büros zu interpretieren. Dafür erhielt sie ein bescheidenes Gehalt in Dollarwährung, mit welcher in dieser Zeit ungeahnte Wünsche erfüllt werden konnten. Außerdem gab es eine Tagesverpflegung in Form von Weißbrot, Fleischkonserven, Orangen, unbekannte, köstliche Dinge für die Kinder, Zigaretten, die zum Tausch gegen lebenswichtige Dinge überall unterzubringen waren. Morgens, wenn die Kinder in der Schule waren, fuhr sie den weiten Weg zur Kreisstadt mit dem Rad. Gegen Abend lud sie das Rad auf das Milchauto und kam so bequemer nach Hause, denn die Steigungen bis zu ihrem Dorf waren mit dem Rad anstrengend und zum Teil gar nicht zu fahren. Die Buben warteten am späten Nachmittag schon an der Milchpritsche auf die Mutter. Sie hatte ihnen für mittags Essen hingestellt. Danach machten sie die Schularbeiten, fütterten das Kleinvieh und spielten herum. Abends kochte die Mutter von ihren Rationen ein warmes Essen, z. B. Reis mit einem Ragout aus Büchsenfleisch, und danach gab es noch ein Stück Weißbrot mit Erdnussbutter zum Tee mit Kandis. So kam endlich einmal Abwechslung in das seither so eintönige Essen.

 

Tagebuch Sommer 1945

„Welch ein unsicheres Leben führe ich. Ob mein Mann noch lebt? Ich habe erfahre, dass große Gefangenenlager im Freien errichtet wurden, wo die Menschen schutzlos der Witterung preis gegeben sind. Dabei sollen die Kost äußerst knapp und die hygienischen Verhältnisse miserabel sein. Mein Chef im amerikanischen Büro hat es mir bestätigt: ‚Wohin sollen wir mit den vielen Gefangenen? Die Kasernen, soweit sie nicht zerbombt sind, brauchen wir für die Besatzungstruppen.’ Er hat mir auch gesagt, dass ich bald nicht mehr gebraucht werde! Was wird dann? Außer der Sorge um meinen vermissten Mann, drohende wirtschaftliche Not. Irgendwie muss ich die Familie ernähren. Die Feldarbeit bei den Bauern, die mir ohnehin nicht die Notdurft des Lebens eingebracht hat, habe ich aufgegeben. Ich werde mit Winter reden, der als Bürgermeister abgelöst wurde, aber Beziehungen hat. Vielleicht kann er etwas für mich tun. Als ich am Sonntag bei ihm war, versprach er, sich im Landratsamt umzuhören, wo er gut bekannt ist. Wenn ich gelegentlich in der Stadt bin, soll ich mich beim Landrat vorstellen. Das hat er für mich erreicht. Er ist ein guter Freund. Ich schiebe es nicht auf, bitte meinen Büroleiter um eine freie Stunde. Der Landrat ist ein bäuerlich-väterlicher Mensch. Er sagt: „Meine Sekretärin hat sich mit einem Amerikaner verlobt, wird bald heiraten. Dann bin ich sie los. Der Winter hat mir Ihre Persönlichkeit geschildert und Ihre Kenntnisse. Er wollte sich für Sie verbürgen.“ Hoffentlich hat der Gute nicht übertrieben in seiner Hilfsbereitschaft. Er ist so ein freundlicher, gefälliger Mann. Das sage ich dem Landrat. „Wir wollen es miteinander versuchen, mit einer Probezeit, denn ich brauche eine absolut selbstständige Kraft, weil ich viel unterwegs bin. Ihre Vorgängerin könnte Sie einarbeiten.“ Ich sagte ihm: „Verwaltungsarbeit habe ich noch nicht gemacht. Aber kaufmännisch bin ich gut bewandert. Ich habe Durchschnittsbildung und Sprachkenntnisse.“ „Sie haben einen guten Eindruck gemacht. Wann könnten Sie anfangen?“ Daraufhin habe ich mit dem Kommandanten geredet: „Wie lange brauchen Sie mich noch?“

 

18. Fortsetzung

 

„In zwei Wochen lösen wir hier auf. Dann werden Sie nicht mehr benötigt. Aber wenn Sie in Not sind, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Ich gebe Ihnen meine neue Anschrift in Frankfurt.“ Dann schenkte er mir noch Schokolade und Bonbons für die Kinder.

 

                                                                       *

 

Seit 1. September bin ich im Landratsamt tätig. Ich fürchte die Probezeit nicht, denn ich fühle mich den Aufgaben gewachsen. Nun bin ich wirtschaftlich gesichert, kann die Familie ernähren. Die Doppelrolle als Hausfrau und Berufstätige fordert mich hart. Es muss gehen. Ob ich jemals meinen Mann wiedersehe?

 

An einem späten Herbstnachmittag, ich war gerade vom Dienst heimgekommen, öffnete sich leise und langsam die Küchentür unseres kleinen Bauernhauses. Da stand im Rahmen ein abgerissener, bärtiger Mensch, einen alten Pappkarton in der Hand. Das Jammerbild eines Mannes – mein Mann. Erschüttert standen wir uns gegenüber, fanden keine Worte. Halb verhungert hatte er sechs Monate hinter Stacheldraht im Freien gelebt, ohne ein Dach über dem Kopf. Die Kinder und ich hatten inzwischen Willkür und Schikanen der Besatzungsmacht, aber auch freundliche Hilfe von dieser Seite erlebt. Einer hatte vom Anderen nichts gewusst. Nun waren wir uns neu geschenkt. Unser Leben konnte sich wieder normalisieren.

 

Doch man soll nicht annehmen, dass solche Erlebnisse wirkungslos bleiben. Sie verändern den  Menschen, indem er zufriedener, bescheidener, toleranter wird, wenn sich nach turbulenten Zeiten alles zum Guten wendet. Das viel zitierte Glück erweist sich als mehr als ein Wort, bekommt einen tieferen Sinn. Damit schließe ich dieses Tagebuch. Es hat meine geheimsten Gedanken aufgenommen.“

 

                                                                       *

 

Barbaras Mann ging es zunächst nicht sehr gut. Er hatte rheumatische Schmerzen und einen schweren Bronchialkatarrh. Seine Frau verordnete ihm eine Milchkur, damit er sich langsam wieder an normale Kost gewöhnen sollte, ohne weitere gesundheitliche Gefährdung, nach der langen Hunger- zeit. Tagsüber, wenn Barbara im Büro war, kümmerte er sich um die Kinder. Bald ging es ihm besser. Er hatte sich schnell erholt. Seine Frau kochte nun kräftige Kost für den abgemagerten Mann, so dass die Lebensgeister bald wieder erwachten. Seine Idee war es, das Geschäft wieder anzumelden und in die Stadt zurückzuziehen. Seine Frau war anderer Meinung: „Frankfurt ist eine Ruinenstadt. Du kannst weder Ware einkaufen noch verkaufen. Es gibt keine Produktion und keine Kaufinteressenten. Das Geld ist knapp und dazu entwertet. Warte noch, bis die Initiative zu Aufbau und Ankurbelung durch eine neue Regierung spürbar wird.“ Der Mann bestand auf seinem Vorhaben: „Ich lasse mich nicht von meiner Frau ernähren.“ Seine Frau beschwor ihn, sich alles gut zu überlegen mit dem Neubeginn des Geschäftes. Unter den augenblicklichen Umständen würden sie zugrunde gehen. Sie müssten Geduld haben und seien doch vorerst gut versorgt. „Ich erwarte, dass du die Bürotätigkeit aufgibst und wir wie früher zusammen im Geschäft arbeiten. Das ist mein letztes Wort“, sagte Martin Kolb aufbrausend. „Gib mir ein Vierteljahr Bedenkzeit“, bat Barbara versöhnlich. „Wir wollen froh sein, diese schwere Zeit hinter uns gebracht zu haben und nicht streiten, sondern vernünftig diskutieren. In Geduld wollen wir den neuen Anfang planen, die Entwicklung beobachten und sofort anfangen, wenn die Zeit dafür reif ist. Im Augenblick ist es hoffnungslos. Du musst dich noch erholen, vor allem nervlich. Das ist die Ursache für deine hektische Ungeduld. Bis dahin sind wir gut versorgt durch meine Stellung. Ich bin jetzt fest angestellt. Bitte, lass uns einig und zufrieden sein.“ Barbaras Mann ließ sich noch mal überreden. Aber er lief mürrisch herum, glaubte mit der ihm eigenen Zähigkeit auch unter den gegebenen Verhältnissen an ein erfolgreiches, neues Beginnen. Öfter fuhr er in die Stadt, nahm Kontakte auf, wurde zuversichtlich. Eines Tages kam er strahlend nach Hause: „Ich habe das Geschäft zum 1. Januar angemeldet. Die Steuern werden für ein Jahr erlassen. Wir müssen uns um den Umzug kümmern.“ „Das ist gegen unsere Absprache“, entgegnete Barbara wütend. „Und gegen meine Überzeugung. Ich kann auch denken, und an einen erfolgreichen Anfang glaube ich nicht. Ich lasse mich nicht zwingen, die jetzige Sicherheit gegen eine ungewisse Zukunft einzutauschen. Wenn du in die Stadt zurück willst – zunächst ohne mich. Ich bin nicht mehr das einfältige Ding, das zu Allem ‚ja und amen’ sagt. Fünf Jahre Kampf ums Überleben haben mich verändert. Im übrigen graut mir vor unserer Zusammenarbeit, wenn alles wieder werden soll, wie es vor dem Krieg war. Das mache ich nicht mehr mit.“ Beiden war es bitter ernst mit ihrem Entschluss, keiner gab nach. „Nichts hat sich geändert seit früher, rein gar nichts“, dachte Barbara. „Und ich hatte so fest daran geglaubt, dass die leidvolle Vergangenheit meinen Lebensgefährten versöhnlicher gemacht hätte. Wenn ich wieder seine Sklavin wäre wie früher, wäre alles in Ordnung. Ich kann es nicht mehr, wie es auch ausgeht. Kuschen und Antreiben mache ich nicht mehr mit.“

 

Als habe der Mann ihre Gedanken erraten, besänftigte er sie: „Du neigst zu Übertreibungen. Für eine Geschäftsfrau bist du zu zart besaitet und siehst Angriffe gegen deine Person, die es nicht gibt. Ich freue mich auf einen Anfang mit dir, auf den Erfolg mit dir. Aber Dreinreden vertrage ich nun mal nicht. Du bist zu weich für Risiken und Entscheidungen, aber trotzdem eine tüchtige Mitarbeiterin, Hausfrau und Mutter.“ „Man kann es auch umschreiben mit ‚Mädchen für alles’, ehrenamtliches Dienstmädchen, das den Schnabel zu halten und den Herrn und Gebieter so zu akzeptieren hat, wie er ist“, stellte sie richtig. „Immer anpassen, einordnen, unselbstständig bleiben – so willst du mich haben.“ Martin Kolb ging ins Schlafzimmer, packte wortlos seinen Koffer, sagte verstimmt und kurz gute Nacht. Am frühen Morgen des nächsten Tages machte er sich auf den Weg in die Stadt.

 

Schluss

 

„Ich hoffe, dass du zur Vernunft kommst“, sagte er zum Abschied. „Du kannst mich anrufen.“

 

Zu ihrem Namenstag, dem Barbaratag, kam eine Glückwunschkarte im Umschlag: „Komm, ich liebe dich“. „Wie zäh er ist“, dachte die Frau. Ich auch. Dieses Mal bleibe ich hart auf Biegen oder Brechen.“ Brechen würde Trennung bedeuten. Zum ersten Mal war dieses Wort drohend aufgekreuzt. Das Weihnachtsfest, das ein so glückliches, gemeinsames werden sollte, nahte mit Sorge und Verbitterung auf beiden Seiten. Barbara rief ihren Mann an: „Bitte verlebe die Feiertage bei uns, um der Kinder willen.“ Er kam und fand ein liebevoll vorbereitetes Fest in einem gemütlichen Heim. Strahlende Kinderaugen begrüßten ihn. Köstlichkeiten, die sie Jahre lang entbehrt hatten, waren aufgespart worden, seit es ihnen besser ging. Beide Eheleute vermieden während der gemeinsamen Festtage jede Diskussion mit den Worten: „Dank für die schönen Tage bei dir. Willst du eine weitere Bedenkzeit?“ „Nur noch sinnvoll, wenn auch du sie nutzen willst. Um der Kinder willen bitte ich darum. Also sagen wir: Noch ein Vierteljahr“, waren Barbaras letzte Worte.

 

Anfang Januar traf die besorgte Frau zufällig im Amt Förster Faust. Er wollte den Landrat sprechen, der war aber abwesend, und so geriet er an sie. „Hier hätte ich Sie nicht vermutet“, gestand er erstaunt. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“ „Wie geht’s Ihrer Familie?“ fragte Barbara und ahnte aus den ernsten Zügen nichts Gutes. „Schlecht geht’s uns, seit meine Frau tot ist. Ein Vierteljahr ist es jetzt schon. Bei einer Nierenoperation gestorben.“ Ergriffen drückte die junge Frau des Försters Hand: „Und ich habe nichts gewusst.“ „Ist Ihr Mann zurück? fragte Faust. „Da sind Sie wohl glücklich?“ „Ich hoffte es zu werden, als er im Herbst aus der Gefangenschaft kam“, sagte sie betrübt. Aber im Augenblick sieht es nach ernsthaften Differenzen, ja nach Trennung aus. Aber ich kann jetzt nicht so lange privat reden, ich habe meine Pflichten. Sie verstehen das?“ „Darf ich Sie an einem Abend besuchen?“, fragte der Förster, „Oder würde das Ihren Mann stören?“ „Vielleicht“, antwortete die Frau gleichmütig. „Aber warum soll ich nicht den Besuch von Bekannten empfangen während seiner Abwesenheit? Er lässt sich selten sehen, baut das Geschäft wieder auf in Frankfurt.“

 

An einem der nächsten Abende schon erschien der Förster. Er berichtete die Leidensgeschichte seiner Frau und den Schock, der ihm widerfuhr, als sie nach der unaufschiebbaren Operation starb. Dass er dann schmerzvoll begriff, dass sie der Mittelpunkt der Familie gewesen war, immer da, gütig umsorgend, nur für ihn lebend. „Ich schäme mich, sie vielleicht nicht genug geliebt zu haben, wenn sie es auch nicht empfand. Sie war anspruchslos und dankbar. Schon früher habe ich davon gesprochen, sie war mir wie eine Mutter. Diese habe ich nun zum zweiten Mal verloren. Wollen wir sie gemeinsam auf dem Friedhof besuchen? fragte er. Sie vereinbarten es für den nächsten Sonntag.

 

                                                                                  *

 

Nach dem Friedhofsbesuch saßen sie nachdenklich in der großen Wohnstube des Forsthauses zusammen. Hier war die Lücke, die der Tod der Frau gerissen hatte, spürbar. Die Kinder spielten seit langem wieder mal am Waldrand und auf der Koppel zusammen. Um das bedrückende Schweigen zu beenden, schilderte Barbara, wie es ihr nach Kriegsende ergangen war, bis ihr Mann zurückkehrte. Wie sich ihre Illusionen von einem glücklichen Familienleben nicht erfüllten, weil die Partner über das gemeinsame Leben verschiedener Meinung waren. Dass er sie immer und in Allem kritisierte und die eigene Meinung als Richtung gebend festlegte. „Vielleicht wird alles noch gut“, tröstete Faust. „Da bin ich skeptisch. Am 1. April läuft die Bedenkzeit ab, die wir uns zugestanden haben. Ich werde nicht nachgeben, und er noch weniger“, sagte Barbara. Der Förster sah sie mit- fühlend an: „Das Leben geht weiter. Ich brauche eine Hausfrau für die Buben und für mich. Könnten Sie sich vorstellen, dies für uns zu werden, wenn Ihre Ehe in die Brüche geht?“ „Solche Gespräche sind gegen mein Gefühl, wenn man vom Grab eines lieben Menschen kommt. Doch aus Ihrer Situation wird es entschuldbar. Ich will nicht über die Gegenwart hinaus planen. Wenn meine Ehe zerbricht, werde ich die Sorgepflicht für meine Kinder allein übernehmen. Meine Position im Landratsamt ist eine fürs Leben. Ich bin versorgt, frei und selbstständig. Zunächst bin ich tief enttäuscht, dass ich mich anscheinend mit meinem Lebensgefährten nicht mehr arrangieren kann. Im Augenblick kann ich mir nicht vorstellen, dass ich eine neue Bindung ohne weiteres eingehen würde. Man kann vom Regen in die Traufe kommen. Es müsste sehr gründlich geprüft werden.“ Der Förster ergriff ihre Hand: „ Es ist unverzeihlich, dass ich schon wieder egoistisch auf das Glück hoffte, eine Frau gewinnen zu können, die mich vom Augenblick der ersten Begegnung an beeindruckt hat. Haben Sie das nicht gemerkt? Mit Scherzen habe ich es überspielt, denn eine Frau wie meine Margret es war, betrügt man nicht, ebenso wenig wie man versucht, eine Persönlichkeit Ihres Niveaus zu verführen. Ihr Äußeres, Ihr Typ, Ihre Tüchtigkeit, Ihr Bildungsstand, Ihr Mann müsste ein Esel sein, wenn er blind dafür ist und Sie preisgibt. Ich bin ein rauer Bursche, doch romantisch, verträglich und schätze ein zufriedenes Zuhause.“ „Vielleicht wäre ich froh und zufrieden mit einem Partner Ihrer Art geworden. Doch wer kann das wissen? Der Alltag bringt in jeder Ehe Probleme, an denen man scheitern kann. Das hätte uns beiden auch passieren können. Man wird aus den Erfahrungen vorsichtiger, klüger, die Pferde gehen einem nicht mehr so leicht durch. Wenn sich entsprechende Entscheidungen ergeben, glaube ich fähig zu sein, meine jetzige Stellung zu opfern und das will schon etwas heißen. So, ich habe mich jetzt nicht hinter meinem Stolz versteckt, sondern einfach die Wahrheit gesagt.“ „Sind wir nicht ein Paar, wie füreinander geschaffen? Ich kann es kaum erwarten bis wir uns offiziell angehören.“ „Sachte“, mahnte Barbara, wir müssen noch warten. Die Kinder sollen vorläufig nicht wissen, und ich bin noch nicht frei. Es kann auch noch anders kommen, genauer, dass mein Mann nachgibt. Doch für den Fall des Scheiterns meiner Ehe hast du mein Versprechen.“ „Würdest du dich einsam fühlen oder gar fürchten in dem abgelegenen Forsthaus?“ „Ich würde gern hier leben. In dieser Gegend bin ich in harten Jahren eingewurzelt. Dass ich hier bleiben und nicht in die Stadt zurück will, ist einer der Gründe unserer Auseinandersetzungen. Diese Landschaft mit den Wäldern, den stillen Tälern ist für mich der schönste Lebensbereich. Man erlebt die Natur, die Jahreszeiten so intensiv, wie es kaum sonst wo möglich sein kann. Vielleicht hat die hiesige Gegend nach allgemeinem Urteil nichts Großartiges. Mir aber hat sie das Heimatgefühl geschenkt.“ Faust versprach: „Auf einsamen Wegen würde ich dich immer begleiten, das ließe sich einrichten. Aber auch Tags über bin ich oft in der Nähe des Hauses oder im Haus. Auch ein Förster ist nicht immer im Revier und hat schriftliche Arbeiten zu machen.“

 

                                                                       *

 

Nach Ablauf der Bedenkzeit hatten die Eheleute Kolb noch ein langes Gespräch mit dem Resultat, dass sie ohne Streit und ohne Feindschaft auseinander gehen wollten. Sie waren charakterlich zu verschieden und beantragten übereinstimmend die Scheidung. Der Vater sollte seine Kinder so oft wie er wollte sehen.

 

Beim Hochzeitsmahl fehlte auch der Bürgermeister nicht. Er verbarg seine Rührung hinter einer launigen Tischrede.

 

                                                                       Ende