Siedler
„Ich habe dich kommen lassen, Quintus Severus, weil du ein verdienter Haudegen bist,der demnächst nach 25 Dienstjahren in den Ruhestand gehen darf. Eben ein tüchtiger Räter. Es geht das Gerücht, du wollest nicht nach Rätien zurück, weil du das Gras nicht zertreten möchtest, das über eine unliebsame Sache gewachsen ist. Mich interessiert hier nicht, warum du damals unbedingt Angehöriger der Hilfstruppen nördlich von Nida werden wolltest. Du warst immer ein tüchtiger Soldat. Solche Menschen will der Kaiser belohnen. Da gibt es, wie du weißt, die Möglichkeit, dir in einer römischen Provinz Siedlungsland zuzuweisen. Rätien entfällt nicht nur, weil du dort nicht gern gesehen bist, sondern auch, weil es dort kein Land mehr zu verschenken gibt.- Da wären dann noch die anderen barbarischen Provinzen, vorzugsweise Pannonien. Doch ich sehe dir an, du bist nicht erfreut. Man hört von Angriffen der Goten in diesem Gebiet. - Du hast einige Germanen aus anderen Stämmen als Kameraden, in deren Heimat es noch freies Siedlungsland gibt. Du brichst nicht gerade in Freudenrufe aus. Was soll ich dir anbieten? -Nun, dann bleibt nur noch diese eine Möglichkeit: Einen Tagesmarsch von hier, jenseits des Limes, hat einer meiner Vorgänger mitten im Wald einen Wachtturm und schützende Mauern errichten lassen.
Das geschah zu der Zeit, als die Chatten im Hinterland des Limes aktiv waren. Um sie zu vertreiben, ließen meine Vorgänger Schneisen in die Wälder schlagen, von denen aus sie die Chatten packen konnten. Manchmal nutzten sie auch schon vorhandene Fernstraßen, um schneller voranzukommen. Bäume und Buschwerk wurden damals wie zuvor hier an der Grenze auch dort gründlich entfernt, ein Brunnen gegraben und sogar ein Garten angelegt. Vielleicht wollte der Statthalter von Nordgermanien den Limes hinter den Gebirgskamm vorschieben? Wenn ich nur wüsste, unter welchem Kaiser das war! Eine Gedächtnislücke. Niemand erinnert sich. Die Sache wurde nicht weiter verfolgt. Kaiser Vespasian verfügte danach, die bestehenden Grenzen sollten gut geschützt, jedoch nicht erweitert werden.
Nun ist wieder Wald gewachsen. Der Brunnen sei zugefallen, berichtet man mir. Doch Mauern und Turm stehen noch. Man kann sie nutzen und miteinander verbinden. Das Land müsste wieder urbar gemacht werden. Eine schnurgerade Höhenstraße bringt dich dorthin. Willst du dort eine Villa errichten?
Wenn der Limes verlagert wird, könnte die alte germanische Straße zur römischen Poststraße werden. Immerhin soll sie - so berichten die Händler – bis nach Colonia Agrippina gehen. Über weite Strecken sei sie gut befahrbar. In entgegengesetzter Richtung führt sie zu einem Kastell am Limes. Wenn du alter Kämpfer wirklich einmal Hilfe benötigen solltest, so könntest du sie dort bekommen. Oder im Falle höchster Not hier in unserem Lager Schutz erhalten. Aber wahrscheinlich brauchst du den gar nicht. Es wohnen keine Barbaren auf der anderen Seite des Limes. Es gibt nur Wald, nichts als Wald und wilde Tiere. Die nächsten germanischen Stämme, die der Chatten, sind schon lange friedlich und siedeln weit weg. Sie kümmern sich nicht um die Grenze.
Ich habe sagen hören, dass die blonden Alemannenmädchen aus der Ebene besonders dir nachlaufen, wenn sie das Lager betreten dürfen. Es soll unter ihnen eine sein, die regelrecht nach dir sucht und dich nicht mehr aus den Augen lässt, solange ihre Brüder, alle Maultierzüchter, im Lager zu tun haben. Germanische Frauen sind tüchtig, verstehen sich auf vielerlei Fertigkeiten. Du hast selbst erlebt, dass sie sogar in Schlachten ihren Männern die Waffen hinterhertragen! Doch eines ist wichtig: Der Mann muss seine Frau achten!
Mancher germanische Vater ist froh, wenn er einen Mund weniger zu stopfen hat. Für dich als künftigen Schwiegersohn sprechen die reiche Beute, die du in den Kriegen gewonnen hast sowie die handwerklichen Fähigkeiten, die du dir in deiner Dienstzeit angeeignet hat. Ich habe mich beim Wirt des Lagerdorfes erkundigt: Diese hübsche Germanin hat vier Brüder, von denen nur der älteste den väterlichen Hof erbt. Die anderen können bei ihm Knechte werden oder irgendwo im Niemandsland als Freie siedeln. Was werden sie lieber tun? Wenn ihr nun zusammen jenseits des Limes ein Dorf gründen würdet, könntet ihr einander unterstützen. Euer künftiges Dorf könnte später einmal zu einem Mansionsplatz ausgebaut werden, in dem die Postkutschenfahrer und ihre Gäste übernachten, oder zu einem Mutationsplatz, wo sie ihre Pferde wechseln, oder beides.
Nun sprich, Quintus Severus, willst du zurück nach Rom oder jenseits des Limes ein Stück Land zugewiesen bekommen?“
„Zenturio, das sind viele Neuigkeiten auf einmal! Gestatte, dass ich den nächsten Markttag abwarte, wenn das Vieh von weit her herbeigetrieben wird und Bauern wie Händler ihre Waren anbieten. Dann will ich die hübsche Hiltiko fragen, was sie von einem römischen Siedler namens Quintus Severus hält und ob ihr Vater wohl einverstanden sein könnte, wenn sie mit mir einen Hausstand begründet und mit ihren Brüdern ein Dorf.“
Dreißig Jahre sind vergangen. Hiltiko, noch immer eine schöne Frau, etwas füllig, weißhaarig, steht im Tor des Mansionsplatzes, den sie zusammen mit ihrem Mann Quintus Severus sowie dessen und ihren eigenen Sklaven aufgebaut hat. Wie sich die Zeiten geändert haben! Zwar ist die an die Raststätte angrenzende Straße noch genauso dicht bevölkert von Händlern mit hochrädrigen esel- oder maultierbespannten Karren; zwar ist dieser Platz auf der staatlichen Landkarte verzeichnet; doch niemand mehr kontrolliert im Auftrag des Kaisers die Pässe der Reisenden. In manchen Stationen haben die Türen keine Schlösser, Gepäck verschwindet, die Betten sind vom Ungeziefer verseucht. Hiltikos Rasthaus dagegen ist beliebt bei den Reisenden. Die Matratzen sind mit Farnkraut gestopft, das Läuse, Flöhe und Wanzen vertreibt. Die Herrin achtet streng darauf, dass es immer wieder verbrannt und erneuert wird. Sie lässt ihre Mägde Seife herstellen, mit der Wäsche und Hausrat gereinigt werden. Seit ihr Mann vor 12 Jahren starb, hat sie einen bärenstarken Knecht damit beauftragt, räuberischem Gesindel die Stirn zu bieten. Diebe sind auch bei ihr keine Seltenheit, doch sie werden unnachgiebig verfolgt. So etwas spricht sich herum. Trotzdem findet nur noch selten ein Pferdegespann vor einem staatlichen Eilwagen seinen Weg über diese Abkürzung nach Colonia Agrippina. Die römische Streitmacht verliert zunehmend ihr Ansehen. Ständig werden Legionäre abgezogen, die in fernen Provinzen Grenzen sichern sollen, welche dem Kaiser wichtiger sind als die germanischen. Viele Händler ziehen über die Straßen, an denen „Muliforum“ liegt, ihr Dorf. Sie kaufen ihren Brüdern die Maultiere ab. Doch Hiltikos eigene Söhne zieht es fort. Der Älteste, der eigentlich das väterliche Erbe hätte übernehmen sollen, ist nach Rom gegangen. Er verspricht sich dort im Dienst des Kaisers ein besseres Fortkommen. Seine Brüder wollen es ihm gleichtun, sobald sie alt genug für den Militärdienst sind. Sie sehnen sich nach den Attraktionen in Rom, von denen der Älteste ihnen vorgeschwärmt hat: Die Aquädukte, die Märkte, die Bäder, der Zirkus! Regelmäßig lässt er Briefe nach Hause schreiben, die ein vorbeikommender Händler dann vorlesen muss. Hiltikos Hoffnung ruht auf ihrer Tochter. Wird Julia einen zuverlässigen Mann finden, der mit ihr den Fortbestand dessen sichert, was sie mit ihrem Mann aufgebaut hat? Anderenfalls wird sie den Hof einem ihrer Neffen übergeben. Aber auch die lauschen gebannt den Berichten aus Rom. Galt es zu Zeiten ihrer Brüder noch als etwas Besonderes, in einem Limeskastell fern von zu Hause Dienst zu tun, so muss es heutzutage unbedingt eine Großstadt sein wie Mainz, Trier oder Köln, am besten aber gleich Rom! Wäre nicht das Klima so rau, so trügen die Jungen am liebsten Tunika und Toga, noch besser: die Kleidung eines römischen Legionärs. So aber wissen sie das Leinenhemd, die gebundene Lederhose, die roh gegerbten Fellschuhe, das Fell-Wams und den Wollfilzmantel zu schätzen, die unter den alemannischstämmigen Siedlern üblich sind.
Da hört sie ihren Bruder Thorvald rufen: „Hiltiko, die Runenstäbe werden geworfen!“
Wie konnte sie das vergessen! Rasch ergreift sie ein Maultier und reitet zur gegenüberliegenden Seite des Hochtals. Auf der anderen Talseite haben ihre Brüder ihre Gehöfte dicht beieinander errichtet. Heute wird nach altem germanischem Brauch das Land für Winter-, Sommersaat und Brache gleichmäßig verteilt. Die Stäbe entscheiden, wo der einzelne Bauer für dieses Jahr seine Felder bekommt. Wald, Weide, Wiese, Heide, Bach und Teich sind allerdings Gemeinschaftseigentum. Doch niemand darf Raubbau betreiben. Festgelegt ist die Zahl der Tiere, die der einzelne Bauer in die Gemeindeherde geben darf. Der Beginn der Heu- und Getreideernte wird gemeinsam beschlossen. Zwar ist Hiltiko hier die einzige Frau, die - seit dem Tode von Quintus Severus - die gleichen Vorrechte wie ein Mann genießt; doch sie muss auch wie ein Mann außerhalb von Haus und Hof ein Schwert mit sich führen.
Hiltiko treibt ihr Reittier auf die Weide des Maultiergestüts, das ihre Brüder Thorvald, Bernwart und Rando begründet haben. Die Maultierzucht erfordert großes Geschick, doch sie bietet auch ansehnlichen Verdienst. Die Brüder haben mit ihren Familien ein angenehmes Leben. Eine lebhafte Begrüßung spielt sich ab. Nachdem die Zeremonie des Aufteilens beendet ist, versammeln sich die Dorfbewohner am Brunnen unter der Linde. Die Brüder geben ihrer Sorge Ausdruck: Beim letzten Markttag im römischen Kastell berichteten die Viehtreiber aus Colonia Agrippina von vereinzelten Versuchen chattischer Siedlergruppen, den im Lahngau ansässigen Bauern ihr Land und ihre Höfe abzunehmen. Die Geschwister vereinbaren für den Notfall gegenseitige Hilfe. Sie wollen den Winter nutzen, um ihre Höfe uneinnehmbar zu machen. Zusätzlich zu den schon bestehenden Dornenhecken, Gräben und dem Gebück wollen sie Mauern errichten. Und Hiltiko? Auch sie wird ihren Söhnen auftragen, die Mauer weiterzuführen, die einst römische Legionäre errichteten, an die ihr Mann seine Wirtschaftsgebäude einfach angelehnt hat. Rund um die Villa soll eine weitere Mauer führen, wie bei einem römischen Kastell. Wie gut, dass das Hochtal wie ein großes Amphitheater wirkt, in dem man jeden Ruf eine römische Meile weit hört! Das sollte im Ernstfall genügen.